Ingolstadt (DK) Arlinda A. hat vor zehn Jahren bei einem Unfall in Ingolstadt ihr linkes Bein verloren. Obwohl ihr Leben seither beschwerlich geworden ist, versucht die zweifache Mutter, zuversichtlich nach vorne zu blicken und stark zu sein. Es gelingt ihr nicht immer, wie die 30-Jährige uns erzählt.
Eigentlich möchte sie gar nicht mehr dran denken. Alles wie einen schlechten Traum abschütteln. Doch jeder neue Morgen konfrontiert Arlinda A. beim ersten Schritt aus dem Bett mit der harten Realität. Sie, der frühere Springinsfeld, lebhaft und sportlich, quält sich erst einmal mühsam aus den Federn. Mit einem Bein nur, das andere verlor sie bei einem schrecklichen Unfall in Ingolstadt. An diesem Sonntag sind es exakt zehn Jahre, dass ein heute 49-Jähriger sie auf der Ettinger Straße erfasste und zwischen seinem und ihrem Auto einquetschte.
Sie überlebt nur sehr knapp, mit einem Schädel-Hirn-Trauma und ohne ihr linkes Bein, das durch die Wucht des Aufpralls abgetrennt wird. „Aber ich bin noch da, es hätte schlimmer kommen können“, sagt die 30-Jährige heute. Ihre ältere Schwester, vor deren Wohnung sich das tragische Geschehen ereignete, ist weggezogen, sie wollte nicht täglich an das Geschehen erinnert werden. Auch Arlinda wohnt inzwischen ganz woanders, hat aber noch starke familiäre Bande nach Ingolstadt. Der Vater ist zwischenzeitlich gestorben, aber ihre acht Schwestern und die Mutter geben ihr großen Halt. Und sie hat im Jahr nach dem Unfall geheiratet – ihr damaliger Freund und jetziger Mann hatte sie nicht im Stich gelassen und steht fest zu ihr, bis heute. Wie auch seine Mutter, für die Arlindas Schicksal alte Wunden aufriss, hatte sie doch ihren Mann bei einem Unfall verloren.
„Ich bin so dankbar, dass ich meine Familie und meinen Mann habe“, sagt Arlinda A. „Er ist immer für mich da, Hut ab!“, meint sie anerkennend. Und da sind die zwei Kinder der beiden, ein Bub (5) und ein Mädchen (7), das dritte ist gerade unterwegs. „Die Schwangerschaft ist in meiner Situation eine besondere Belastung. Da verändert sich der Körper, und ich muss die Prothese ständig anpassen lassen. Im Sommer schwitzt der Beinstumpf da drin auch immer, sodass ich ständig Entzündungen bekomme.“ Nachts, wenn sie mal raus muss, ist es jetzt mit den Krücken und dem dicken Bauch besonders mühsam. „Aber ich will nicht jammern.“ Damals, vor zehn Jahren, hatte Arlinda nicht mehr an ihr Glück glauben wollen, obwohl sie eigentlich ein sehr positiver Mensch ist. „Mann, wie sehe ich scheiße aus“, denkt sie im Krankenhaus, als sie sich das erste Mal einbeinig im Spiegel sieht. Vorbei die Zeiten im kurzen Rock und mit hochhackigen Schuhen, als sie mit Inline-Skates herumkurvte oder im Ingolstädter Freibad vom Zehner sprang. Monatelang sitzt sie in der Reha-Klinik in Osterhofen fest, weil die Krankenkasse ihr die Prothese nicht genehmigt.
Aber sie kämpft sich durch. „Gott wird sich schon etwas gedacht haben, warum es so gekommen ist“, sagt sie. „Ich hätte auch tot oder querschnittsgelähmt sein können.“ Dann lieber doch die Prothese akzeptieren, ein kaltes, technisches Ding, das immer wieder mal hier und dort zwickt und sie stigmatisiert, wie sie meint. Ein Fremdkörper. „Sie ist kein Teil von mir, ich schleppe sie nur mit und bin abends froh, wenn ich sie abnehmen und endlich bequem sitzen kann. Ich hasse es, wenn die Leute mir nachgaffen oder ständig fragen, ob ich mich verletzt habe. Ich möchte nicht daran erinnert werden.“ Solche Gedanken behält Arlinda aber meist für sich, sie redet allenfalls mit ihrem Mann darüber. Dann, wenn die große Traurigkeit eingekehrt und sie zu erdrücken droht. Wie zuletzt, als draußen Eis und Schnee das Wetter bestimmten.
Da bleibt sie lieber daheim, „bevor es mich auf den Hintern haut“. Manchmal fühlt es sich an wie Hausarrest, es bleibt nur der Blick aus dem Fenster. Andere laufen, hüpfen und springen auf zwei Beinen vorbei und sie? Nichts ist mehr wie es war, auch ein Jahrzehnt nach dem Unfall bleibt die Sehnsucht nach dem, was unwiederbringlich verloren ist. In solch trüben Momenten denkt sie mitunter an den Mann, der ihr Leben zerstört hat. Eine große Wut steigt in ihr auf. Mit 1,97 Promille war er am Steuer gesessen, als der Unfall passierte. Vor Gericht erhält er mit einem Jahr Freiheitsstrafe, ausgesetzt zur Bewährung, sowie einem 14-monatigen Fahrverbot die Quittung. Für Arlinda „zu wenig“, aber im Vergleich zu ähnlichen Fällen kommt er schlechter weg als andere. Wenige Tage nach dem Unfall hatte er einen Brief an das Opfer geschrieben. „Meine Schuld belastet mich zutiefst“, ohne seine Frau und seine Kinder würde er durchdrehen, heißt es da verbunden mit der Bitte um Verzeihung. Irgendwann wolle er sie kennenlernen und ihr seine Gedanken mitteilen, ihm tue alles sehr leid.
Den Kontakt hatte sich auch Arlinda gewünscht, einmal trafen sie sich in einem Ingolstädter Café. „Aber es war sehr verkrampft und ein Fehler, ihn zu sehen. Er interessiert sich eigentlich gar nicht für mich und hat sich nie wieder gemeldet. Er hat das Treffen nur für sich selber gemacht, nicht für mich. Aber jetzt ist es mir egal.“ Tränen schießen in ihre Augen, ihr Kinn zittert. Es ist ihr eben doch nicht egal. Sie hatte sich tatsächlich einmal vorgestellt, ihn besser kennenzulernen, um zu verstehen, was damals passiert ist. Ihr Gedächtnis hat das Unglück völlig ausgeblendet, „Vielleicht hätte sich sogar was Positives zwischen ihm, seiner Familie und mir entwickelt.“ Worte einer reifer und nachdenklich gewordenen jungen Frau. „Uns wird immer etwas verbinden, leider ist es etwas Schlechtes. Er hätte sich das Blabla in dem Brief sparen sollen.“ Jenseits ihrer zeitweisen Traurigkeit kann Arlinda ihr Leben durchaus genießen. Das Miteinander in der Familie, wo einer für den anderen einsteht, gemeinsame Ausflüge oder Urlaube und das Gefühl, gemeinsam stark zu sein, helfen ihr durch den Tag.
Die Schwangerschaft schränkt sie zwar ein, aber „meine Tochter Rona hilft mir viel, sie ist schon eine richtige Stütze“, sagt sie. „Wir freuen uns sehr auf das dritte Kind.“ Damals, gleich nach dem Unfall, hatte sie so etwas für ihre weitere Lebensplanung ausgeschlossen, jetzt kann sie es sich ohne Nachwuchs nicht mehr vorstellen. „Mit meinem Mann bin ich so glücklich wie vor zehn Jahren“, sagt sie und hofft, „dass es so bleibt“. Der Gedanke ans Alter bedrückt sie jedoch, sie möchte keine Last sein, wenn sie vielleicht nicht mehr so fit ist. Und so träumt sie davon, dass die Medizin oder Prothesentechnik eines Tages soweit ist, ihr verlorenes Bein so zu ersetzen, dass sie gut damit umgehen kann – und morgens wieder unbeschwert aufwacht.
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