Nur einmal Urlaub in einem warmen Land

29.11.2009 | Stand 03.12.2020, 4:27 Uhr

 

Ingolstadt (DK) Sie verlässt kaum die Wohnung, obwohl sie vor einem halben Jahr in ein Haus mit Aufzug umgezogen ist und raus könnte. Aber sie mag nicht mehr unter Menschen sein. Wenn das Wetter gut ist wie an diesem sonnigen Herbsttag, dann fährt sie ihren Rollstuhl einfach hinaus auf den Balkon.

Von dort aus hat sie einen herrlichen Blick übers Glacis hinweg auf die Spitzen von Münster und Moritzturm. "Da sehe ich die Bäume und Wolken – das reicht mir." Und plötzlich huscht ein kleines Lächeln über ihre Lippen, für einen winzigen Moment. "Wenn Volksfest ist, dann haben wir eine tolle Aussicht auf das Feuerwerk. Das ist dann so, als ob die Sterne direkt auf uns niederregnen."

Kann eine Frau von 35 Jahren, die so spricht, des Lebens so müde sein? Sie sagt, wenn es nach ihr ginge, dann könnte Schluss sein. "Ich lebe nur noch für meine Kinder. Mein einziger Wunsch ist, dass sie glücklich werden. Wenn sie lachen, das tut mir gut." Tränen rinnen über ihre eingefallenen, fahlen Wangen. Denn ihre eigene Mutter hat nichts für sie übrig – nicht einmal Mitgefühl. "Ich überlege immer wieder, wie eine Mama so ein steinernes Herz haben kann." Aus deren Mund kamen einst die vernichtenden Worte: "Du bist selber schuld. Das geschieht dir recht."

Da sei für sie die Welt untergegangen, gesteht sie. "Gott verzeiht – warum können es die Menschen nicht? Jeder macht mal Fehler, und das ist auch gut so, denn daraus lernt man. Ich war doch damals so jung und unerfahren."

Damals – das ist ewig her. Wie viel Leid und Schmerz hat diese junge Frau im Rollstuhl seitdem erduldet. Yasemin Vildiz (Name von der Redaktion geändert) erzählt ihre Geschichte, die manchmal einer Beichte gleicht, in einer schonungslosen Offenheit. Das fällt einer konservativ erzogenen Türkin wie ihr nicht leicht. Sie ist gerade ein paar Monate alt, als die Familie nach Ingolstadt zieht. Als Kind besucht sie die Pestalozzischule und macht anschließend eine Lehre als Schlosserin bei Audi. 1992 ist sie fertig, verliebt sich Hals über Kopf und heiratet sie gegen den Willen der Eltern. "Mit 18, da schwebt man doch in den Wolken und glaubt, alles wird gut." Wurde es aber nicht: "Er hat getrunken und mich geschlagen."

Alles erduldet

Sie liebt ihn trotzdem. Zwei Mal wird sie schwanger, zwei Mal verliert sie das Kind, wird schwer krank. "Manchmal denke ich: Wär’ ich doch damals gestorben." Statt dessen kommt das Leben: eine Tochter. Doch der Mann verlässt die kleine Familie: "Obwohl ich alles erduldet und geschluckt habe. Es war die Hölle für mich, denn ich hatte kein Geld. Ich bin putzen gegangen, um für meine Kleine und mich zu sorgen. Ich hab’ aus Wasser und Tomatenmark Suppe gekocht in meiner Not." Eines Tages steht die Kripo vor der Tür: Ihr Mann hat sich erhängt und ihr einen Berg Schulden hinterlassen. "Ich dachte, jetzt ist alles verloren."

Von ihrer Familie bekommt die Witwe keine Unterstützung – im Gegenteil: Die Angehörigen machen ihr am Arbeitsplatz Szenen, schlagen sie. So verliert Yasemin ihren Job. Nach einem flüchtigen Abenteuer wird sie dann auch noch schwanger und bringt eine zweite Tochter zur Welt. Doch alles scheint sich zum Glück zu wenden: Ihr neuer Lebensgefährte kümmert sich rührend um sie und die Kinder. Doch der nächste Rückschlag wirft sie um – im wahrsten Sinne: Bei einem unverschuldeten Autounfall wird Yasemin an der Halswirbelsäule verletzt und kann plötzlich nicht mehr laufen. Die Hoffnung, den Rollstuhl jemals verlassen zu können, hat sie inzwischen aufgegeben: "Ich war schon so oft in der Klinik, auch zur Schmerztherapie. Ich frag’ mich immer wieder, wieso das nicht klappt mit dem Laufen. Die Ärzte glauben, alles, was ich erlebt habe, hat mein Körper kaputt gemacht. Dabei will ich doch so viel geben. Aber so bin ich nicht mehr nützlich." Das hat sie auch ihrem Freund gesagt, als sie die Beziehung beendete. Er hilft ihr trotzdem weiter, macht Einkäufe oder kümmert sich um die Kinder.

Um ihre Töchter, 7 und 13 Jahre alt, macht sich Yasemin die meisten Sorgen. Die beiden tragen wegen der Behinderung ihrer Mutter große Verantwortung und müssen sich um vieles kümmern, nicht nur um den Haushalt. "Die Große ist schon zwei Mal sitzen geblieben. Der Lehrer sagt, sie lache so viel. Ich glaube, je trauriger sie ist, umso mehr lacht sie. Sie will den anderen zeigen, dass sie glücklich ist." Die 13-Jährige sei sehr musikalisch und würde gern Gitarre spielen lernen, die Kleine träume davon, Ballerina zu werden.

Yasemin hat einen großen Wunsch, und deshalb hat sie sich an den Verein Familien in Not gewandt: "Ich würde so gern einmal mit meinen Kindern Urlaub machen in einem warmen Land. Die beiden wissen gar nicht, was das ist. Die Große erzählt oft, wohin ihre Klassenkameradinnen in den Ferien reisen. Dann fragt sie mich, ob wir arm sind."

Schönes Zuhause

Was heißt arm? Yasemin und ihre Töchter leben von der Erwerbslosenrente, Witwenrente und Kindergeld. Der Schuldenberg von einst ist dank einer Privatinsolvenz weg, Doch um den Umzug in die neue Wohnung und die Anschaffung neuer Möbel und einer Einbauküche zu bezahlen, hat die Frau bei einer Freundin um einen kleinen Kredit gebeten, den sie in Raten abstottert. Yasemin wollte ihren Kindern unbedingt ein schönes Zuhause schaffen. Das Wohnzimmer ist geschmackvoll und viel Liebe zum Detail eingerichtet – bis hin zu den perlenbestickten Kissen auf dem Sofa. An der Wand lehnen zwei Bilder: "Die sind von mir. Ich liebe das Malen. Dabei kann ich alles vergessen."

Doch jetzt macht sie sich wieder wegen des Geldes Sorgen und verkriecht sich noch mehr. Vielleicht kann der Verein Familien in Not ihr helfen.