Neuburg (DK) Tom Harrell gilt in Jazzkreisen als einer der bedeutendsten aktiven Trompeter des Jazz.
Sein Kollege Phil Woods sieht in ihm sogar "einen der besten Trompeter der Welt". Man mag das auf den ersten Blick kaum glauben, denn, bedingt durch ein Nervenleiden, steht Harrell scheinbar völlig unbeteiligt, ja, abwesend auf der Bühne. Auch beim Konzert im Neuburger Birdland ist das der Fall. Führt er jedoch seine Trompete oder das Flügelhorn zum Mund, wird der verschlossene Mann zum Schöpfer großartiger melodischer Linien, zu einer nie versiegenden musikalischen Quelle, zu einem kreativen Improvisator, der seinesgleichen sucht.
Er scheint, als öffne er seine Persönlichkeit mit jedem Chorus mehr, als kommuniziere er erst durch sein Spiel mit seinem Publikum, als lasse er auf diesem Weg Einblicke in seine Befindlichkeit zu. Musik als Fenster zur Seele. Der kreative Umgang mit Musik als eine für Harrell lebensnotwendige Form der Therapie. - Obwohl eine eindeutige Ferndiagnose unzulässig und folglich völlig fehl am Platze wäre, kann an diesem Abend im Birdland vermutlich aber doch jeder spüren, welche Kraft von Musik an sich ausgehen kann und in diesem speziellen Fall von den Stücken seines aktuellen Albums "Moving Pictures" auch tatsächlich ausgeht. Es gibt immer wieder Passagen während des Konzerts, die eine Art Sogwirkung entfalten. Etwa bei "Vibrer" im ersten Set. Die hypnotische Wirkung wird hier überdeutlich. Was an Harrell, aber natürlich auch an den restlichen Mitgliedern der Band liegt. Solistisch sind Danny Grisett am Flügel, Ugonna Okegwo am Kontrabass und Adam Cruz am Schlagzeug absolut gleichberechtig und jeder nutzt den Freiraum, den Harrell ihnen einräumt, auch weidlich. Gemeinsam freilich sind sie eine Großmacht. Wie die drei zusammenarbeiten und ihrem Chef eine tragfähige Basis bieten, ist sensationell. Und wenn nach Stücken wie "Four The Moment" und "Time Passage" das Quartett zur Landung ansetzt und der letzte Ton verklungen ist, geht nicht umsonst erst einmal ein Raunen durch das Gewölbe des Clubs, ehe stürmischer Applaus losbricht.
Tom Harrell war nicht zum ersten Mal zu Gast im Birdland. Bei jedem Besuch stellte er ein neues musikalisches Konzept vor. Dieses aktuelle mit seinen zwingenden, griffigen Themen, dem ab und an zu verspürenden leichten Anflug von Funk, seinen unerbittlichen Grooves, seiner rhythmischen Bodenständigkeit und über all dem mit der Strahlkraft von Tom Harrells Trompete wird sicherlich einen besonders nachhaltigen Eindruck hinterlassen.
.
Karl Leitner
Zu den Kommentaren