Mit Lyrik infiziert

Ein Lehrer aus Regensburg und seine Schüler verarbeiten das Coronavirus in Gedichten - Sie geben eine Online-Edition heraus

03.04.2020 | Stand 23.09.2023, 11:29 Uhr
Nina Streitenberger. −Foto: Ernest, Streitenberger, Benic, Moser, Drechsler

Regensburg/Ingolstadt - Verharmlosen, Panik schüren - zusammenhalten, vereinsamen: "Rund um Corona passiert viel, das Einordnung braucht, nach Ausdruck strebt", findet Michael Ernest. Um zu verarbeiten, was gerade um ihn herum passiert, schreibt er Gedichte.

Sie sind für ihn ein Tor zu seiner Seele. "Andere malen oder joggen - ich greife zur Lyrik", schildert Ernest. Der Regensburger will nicht wegsehen: "Augen zu und durch ist für mich keine Option." Stattdessen möchte er zum Nachdenken anregen, Dinge auf den Punkt bringen. Er lässt andere Menschen an seinen Gedanken teilhaben - "auch wenn das lyrische Ich nicht eins zu eins man selbst ist, stecken die eigenen Wünsche oder Ängste darin". Er postet seine insgesamt 15 Gedichte aus der Reihe Corona im Internet. Er teilt sie auf Facebook sowie Instagram. "Natürlich sind damit Probleme nicht gelöst. Aber ich verstehe mich selbst dadurch besser und hoffe, anderen Menschen beim Begreifen helfen zu können", erklärt Ernest seine Beweggründe.

Darüber hinaus wolle er zeigen, dass schwierige Zeiten auch Gutes hervorbringen können - wie Kreativität. "Ich sehe das wie Hölderlin: Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch", zitiert Ernest. Kunst und Krisen hängen für ihn zusammen - bei vielen Menschen nehme in schwierigen Zeiten der Schöpfungsdrang zu. "Eine Schülerin hat einmal zu mir gesagt, sie dichtet nur, wenn sie sich schlecht fühlt. Wenn sie glücklich ist, ist sie mit Glücklichsein beschäftigt", erzählt Ernest.

Bei ihm sei die Kreativität nicht von einer bestimmten Laune abhängig - das beweist sein 250 Seiten starker Gedichtband mit dem Titel "Crazy Hope". "Für mich gibt es immer Hoffnung, selbst wenn hoffen verrückt ist", beschreibt der Regensburger. Er braucht auch keine besonderen Orte, um kreativ zu sein. "Als ich in einem Sabbatjahr mit meiner Frau in 21 Länder gereist bin, hat das natürlich viel Inspiration geboten", blickt Ernest zurück. Jedoch sind Reisegedichte nur eine Rubrik seiner lyrischen Schöpfungen. Selbst auf dem Fahrrad oder beim Einschlafen im Bett kommen ihm Verse in den Sinn. Oft inspirieren ihn besondere Formulierungen: "Ich bin mit einer Zugbekanntschaft am Bahnhof gestanden und sie meinte, die Wolken sehen aus wie Zuckerwatte - daraus ist dann ein Gedicht entstanden", schildert Ernest. Er zückt in solchen Momenten sein Handy und tippt die Ideen ein. Lyrik braucht bei ihm kein großes Kino, sie passiert im Alltag. "Ich schreibe nicht auf Knopfdruck. Das soll Notwendigkeit haben. Manchmal kommen mir drei Gedichte am Tag, manchmal eines in der Woche", sagt Ernest. Fallen ihm Verse ein, entwickelt er den Drang, sie niederzuschreiben. "In unserem Alltag ist so viel Banalität, so viel Smalltalk. Das ist in Ordnung. Und trotzdem ist es schön, sich mithilfe der Lyrik tiefergehend auszutauschen", findet der Regensburger.

Diese Leidenschaft für Gedichte gibt der Lehrer für Deutsch, Geschichte, Ethik und Sozialkunde an seine Schüler weiter. Am Katharinen-Gymnasium in Ingolstadt organisiert er ein Poesieteam: "Meine Begeisterung zu vermitteln, ist mir ein Bedürfnis." Umgekehrt könne er den Schülern Lyrik nicht mit solcher Intensität nahe bringen, würde er nicht so dafür brennen. 2019 hat er Gedichte von Mädchen und Jungen vom Katharinen-Gymnasium gesammelt und in einem Poesieband herausgegeben. Auf einem Poesieabend haben Schüler ihre darin abgedruckten Gedichte vorgetragen, um auf das Gemeinschaftswerk aufmerksam zu machen. "Die Schüler haben ganz große Talente, sie sind sehr begabt. Von dieser Lust auf Lyrik leben solche Projekte", lobt Ernest seine Schützlinge. Um deren Leidenschaft für Gedichte zusätzlich anzufachen, bietet der Lehrer Workshops an. "Teilweise sind da 40 Leute gekommen. Die Welle hat sich am Katherl ausgebreitet, die Leute waren angefixt und wollten es auch ausprobieren", schildert Ernest. Bei diesen Treffen lernen die Schüler zum Beispiel, wie sie ihre Gedichte wirkungsvoll vortragen.

Für die Teilnehmer sind sie mehr als bloße Lerneinheiten: "Die Workshops sind eine Inspiration. Man kommt mit anderen in Kontakt, hört ihre Dinge", beschreibt die Schülerin Nina Streitenberger. Andere Jugendliche zu kennen, die ebenfalls Gedichte schreiben, inspiriere sie, selbst welche zu verfassen. Lisa Moser, wie Streitenberger ein Mitglied des Poesieteams, sieht das ähnlich: "Man tauscht sich aus, vermittelt einander Ideen - das ist sehr hilfreich." Moser habe vor dieser Lyrikwelle an ihrem Gymnasium nur für sich selbst poetische Texte verfasst. "Herr Ernest hat uns eine Bühne geschaffen. Wenn so viele Menschen miteinander Gedichte teilen, gibt das Selbstvertrauen, auch seine Werke herzuzeigen. Herr Ernest hat mir Mut gemacht und meine Begeisterung noch mehr geschürt", erzählt Moser. Auch Clara Drechsler aus dem Poesieteam hat durch ihren Lehrer einen Motivationsschub bekommen: "Ich dachte, Poesie ist passiv, man liest das eher. Herr Ernest hat mich aber dann darauf aufmerksam gemacht, dass das, was ich schreibe, Poesie ist." Laura Benic teilt ebenfalls die Meinung ihrer Teamkolleginnen: "Ich bin froh, Herr Ernest als Lehrer zu haben und damit solche Möglichkeiten."

Dieser Poesie-Euphorie ist allerdings das Coronavirus in die Quere gekommen. "Wir hätten jetzt am 18. März wieder einen Poesieabend veranstaltet und den zweiten Poesieband vorgestellt - aber das ging nicht mehr", bedauert Ernest.

Doch aufhalten kann die Krankheit die leidenschaftlichen Lyriker nicht: "Wir haben uns so auf den Abend gefreut, dafür so viel Energie gehabt. Die nutzen wir und wandeln sie um", schildert Ernest. Der Lehrer und Schüler aus dem Poesieteam schreiben in den eigenen vier Wänden während dieser Krisenzeit Gedichte - und teilen sie im Internet mit der ganzen Welt (siehe eigener Artikel). Bei der rund 40 Seiten starken Online-Edition "PoesieVirus. Verse aus der Quarantäne" ist der Titel Programm. Das Ingolstädter Gymnasium bringt den Band zusammen mit dem Spessart-Gymnasium Alzenau - hier unter der Leitung von Artemis Mavroidi - heraus. Die Lyriker widmen sich darin unterschiedlichen Themen. "Momentan ist eine schwierige Zeit. Man muss viel mehr verarbeiten, ohne sich dafür mit Leuten treffen zu können", erklärt Moser. Streitenberger beschäftigt zum Beispiel die fehlende Freiheit und macht diese zu ihrem Thema: "Ich schreibe mir das von der Seele." Bei Drechsler ist es die soziale Isolation, bei Benic Freundschaft.

"Ich bin sehr froh, ein Teil dieses Corona-Projekts zu sein. Es macht mich glücklich, dass das online viele Menschen lesen können und sie dadurch hoffentlich froher sind", beschreibt Benic. Sie wünsche sich, trotz Coronakrise mit ihren und den Versen ihrer Mitschüler Lächeln in Gesichter zaubern zu können.

Verharmlosen, Panik schüren - zusammenhalten, vereinsamen: Lyrische Lichtblicke wie diese unterbrechen das Gedankenkarussell. Poesie-Euphorie trotzt dem Virus.

DK

Laura Schabenberger