Neuburg
Mauerspechte und immer wieder "Roland, Roland"-Rufe

30.08.2010 | Stand 03.12.2020, 3:44 Uhr

Da war es noch dezent, das Loch in der Hofgartencafé-Wand, das sich im Laufe des Abends zu einem ausgewachsenen Loch mauserte.

Neuburg (DK) "Roland, Roland" – immer wieder skandieren die Gäste seinen Namen. Singen? Hatte er eigentlich vor, doch jetzt wehrt er ab: "Ich hab’ heut’ keine Stimme mehr". Vielleicht später . . . Was wie Vertrösten klingt, ist tatsächlich ein Versprechen, und das wissen seine Fans.

Eine gute halbe Stunde später sind sie wieder da, die Rufe "Roland, Roland". Und jetzt nimmt Roland Harsch singend Abschied vom Hofgartentheater, das ihn 20 Jahre seines Lebens begleitet hat – "mehr als die Hälfte meines Lebens".

Vorgenommen hat er sich "My Way" – als letztes Lied des letzten Candlelight-Pianoabends. Eigentlich. Kurze Beratung mit Kerstin Schulz und Pianist Jens Lohse, dann verkündet Schulz trocken: "Weil Roland den Text von My Way nicht auswendig kann, singen wir noch einmal ,Let ist be‘". Immer wieder wischt sich Harsch über die Augen, legt eine kurze Pause ein, Schulz legt dann eins drauf und gleich darauf sind beide wieder im Duett zu hören: "Let it be, let it be . . ."

Unerbittlich ist er gekommen, der letzte Abend für das Hofgartenkino, die Uhr tickt und Roland Harsch versucht es mit Galgenhumor. Lohse und Schulz singen "Those were the Days", während der Kinobesitzer hinten am Tresen neben der Wand steht, die seit zehn Jahren einen Riss hatte. Jetzt gähnt dort ein Loch, vom Chef persönlich hineingetreten. "Zehn Jahre hab’ ich den Riss gehegt und gepflegt", erzählt er. Damals, kurz nach der Renovierung, habe dort ein Inlineskater seinen Allerwertesten reingedrückt, was Harsch mächtig geärgert hat. Der Riss war da, und die Wand bekam im unteren Teil Verstärkung, damit der dezente Haarriss nicht prominenter würde. "Zehn Jahre hab’ ich aufgepasst", wiederholt Harsch. Keiner, der sich hier anlehnte, entging seinem Blick, alle wurden weggescheucht. Am Samstagabend beendete der Kinobesitzer nun ebenso höchstpersönlich das Kapitel Riss auf seine Art – mit einem kräftigen Tritt. Das Bruchstück hebt er zusammen mit einem Gästebuch daheim am Schreibtisch auf.

Und nun darf sich jeder Abschiedsgast sein eigenes Stück der Hofgartenkinowand herausbrechen, einen Hammer holt der Chef eigenhändig herbei. Denn nach einigen ungelenken Versuchen hat sich herauskristallisiert, dass die Gäste den Tritt nicht so perfekt beherrschen wie er selber. "1990, kurz nach der Wende, wurde das Hofgartenkino umgebaut – damals gab es Bruchstücke der Berliner Mauer", geht Harsch auf Geschichtsexkurs, "nur noch heute steht die Hofgartencafémauer, wer will, kann sich ein Stück mitnehmen". Die Idee kommt gut an, Applaus brandet auf und die Leute stehen Schlange, während er jedes einzelne Bruchstück persönlich signiert. Die Stimmung ist auf dem Siedepunkt angekommen, dabei hat der letzte Abend eher beschaulich, unspektakulär, ja nicht einmal wirklich melancholisch angefangen. Auch Schulz war nicht zum Singen gekommen. Eigentlich. "Keine Ahnung, woher das Gerücht kommt", hat sie anfangs noch lachend abgewehrt, wenn Gäste die rhetorische Frage stellten: "Du singst doch heute"

Die Rechnung hat sie ohne den Hauspianisten gemacht. Jens Lohse, 16 Jahre lang für den allmonatlichen Candlelight-Pianoabend verantwortlich, kennt seine Stammkunden und deren Vorlieben genauso wie die der Kollegen: "Bei ,Let it be‘ kann Kerstin nicht widerstehen." An diesem Abend ist nichts geplant. Lohse spielt wie immer aus seinem Repertoire, oder spricht sich kurz mit Schulz ab, auch Anita Kerner lässt sich nicht lange bitten und singt mit. Lange hat sich der Pianist überlegt, was er als letztes spielen wird. Jetzt aber bestimmt der Chef und klärt zunächst die immer wieder Zugaben fordernden Zuhörer über Lohse auf: "Er ist Familienvater, wohnt in Ingolstadt, ist Pendler, hat zwei Kinder und muss irgendwann heim." Aber, "einer geht noch . . .", und das ist das Lied aus Forrest Gump, das so oft als Schlusslied erklungen ist. Vor 16 Jahren, da hat Harsch einen Zettel in Eichstätt ans Schwarze Brett der Uni geheftet: "Suche Hauspianisten". Seitdem hat Lohse zum lebendigen Inventar gehört. Das sonstige Inventar ist zunehmend am Schwinden.

Martha Enghuber ist mit Ehemann Heinz gekommen, "weil das hier unsere Jugend ist". Sie würde gern Cola trinken, doch die ist aus, Cola light gibt’s noch. Ansonsten aber ist das meiste noch zu haben, denn noch einmal ist eingekauft worden, nachdem der "würdige Abschiedsmarathon" (O-Ton Schulz) bestens angekommen war und die Vorräte drastisch reduziert hatte.

"Jede Veranstaltung hat andere Leute angesprochen", bilanziert Harsch, was für ihn zeigt, dass es so bestens gepasst hat. Und doch: "Abschied nehmen ist so anstrengend", sagt er im kleinen Kreis, der immer wieder wechselt. Freunde suchen seine Nähe, und immer wieder kommt "Roland, Roland"-Stimmung auf. "Es ist toll zu spüren, so geliebt, so gemocht zu werden, und Roland hat es verdient", sagt Dieter Ochs, der ehemalige Hertlein-Wirt. "Das ist ein ganz besonderer Abend", ergänzt Ehefrau Lydia.

"Wir sehen uns im Kinopalast." Es klingt wie ein Wahlspruch, der Satz fällt nicht nur einmal, aber wenn Harsch ihn sagt, dann schwingt eine ganz eigene Mischung aus Wehmut und Aufbruchstimmung mit. Und schließlich, kurz vor Mitternacht, ist es soweit – er singt doch noch "My Way", stimmlich und moralisch unterstützt von Kerstin Schulz. Dann pustet Harsch die Kerzen aus – Schluss, aus, Klavierhocker hoch.