Berlin
"Man sollte in den Schulen aktiver werden"

29.10.2020 | Stand 02.12.2020, 10:15 Uhr
Ahmad Mansour arbeitet für Projekte gegen Extremismus. −Foto: Schuldt/dpa

Berlin - Ahmad Mansour spricht im Interview mit unserer Zeitung über sein neues Buch "Solidarisch sein! - Gegen Rassismus, Antisemitismus und Hass".

Herr Mansour, in Ihrem Buch greifen Sie die berühmte Rede Martin Luther Kings auf, dass nicht die Hautfarbe, sondern der Charakter eines Menschen zählen sollte. Inwiefern entfernen wir uns wieder von diesem Traum?
Ahmad Mansour: Ich bin sehr froh, dass wir aktuell nach Wegen suchen, eine Gesellschaft zu sein, in der die Menschen aufgrund ihres Menschseins beurteilt werden, nicht aufgrund ihrer Herkunft, ihrer Religion oder Hautfarbe. Ich habe aber das Gefühl, dass in der Debatte eine Schieflage entstanden ist bei bestimmten politischen Kräften, die irgendwie mitbestimmen wollen.

Welche Kräfte sind das?
Mansour: Das sind vor allem aus der linken Ecke diejenigen, die eine Identitätspolitik betreiben, das heißt, die Menschen wieder in Gruppen wie etwa Schwarze oder Minderheiten wahrnehmen. Sie nehmen die Gruppen alle homogen und als Opfer wahr, differenzieren nicht. Sie tun nicht, was Martin Luther King wollte: dass man die Menschen individuell betrachtet und nicht aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer Gruppe.

Haben Sie ein Beispiel?
Mansour: Etwa wenn man sagt, dass nur Weiße rassistisch sein können und nur Minderheiten Opfer von Rassismus. Die Realität ist viel komplexer. Auch unter Minderheiten gibt es rassistische Einstellungen, die weiter verbreitet sind, als man glauben will.

In Ihrem Buch schreiben Sie, dass unsere Psyche auf Gruppendenken angelegt ist. Ist es möglich, das je ganz zu überwinden?
Mansour: Nein. Aber man kann das Verhalten ändern, indem man sich seiner Vorurteile bewusst wird.

Können Sie das an einem Beispiel erklären?
Mansour: Wenn man etwa glaubt, Frauen seien weniger intelligent, dann ist die Konsequenz daraus, dass man in einem Bewerbungsgespräch einer Frau den Job nicht gibt. In diesem Beispiel kann man vielleicht zwei-, dreimal darüber nachdenken, ob man jetzt wirklich aufgrund seiner Vorurteile eine Entscheidung treffen will oder die Frau gleichberechtigt behandelt und aufgrund ihres Könnens beurteilt.

Also sollte man sich seiner Muster bewusst werden und dementsprechend sein Verhalten korrigieren?
Mansour: Damit dieser erste Schritt überhaupt möglich ist, brauchen wir zwei sehr zentrale Sachen. Das erste ist Begegnung. Wenn wir eine Altstadt schaffen, wo Begegnung auf Augenhöhe passiert, wo die Leute zusammen leben, arbeiten, zur Schule gehen, hilft das enorm, diese Vorurteile abzubauen. Und das zweite ist Empathie-Entwicklung. Je mehr Kinder darin gefördert werden, umso größer ist die Chance, dass sie später nicht diskriminieren.

Ein weiterer Vorschlag, den Sie machen, um die Solidarität zu stärken, betrifft die Förderung der Debattenkultur. Was stört Sie an der aktuellen?
Mansour: Unsere Debattenkultur ist in den letzten Jahren aus sehr unterschiedlichen Gründen sehr ausgehöhlt worden. Wir haben weniger Austausch und bewegen uns da, wo wir unsere Einstellungen bestätigt bekommen.

Welche Rolle spielen die Sozialen Medien dabei?
Mansour: Viele Menschen glauben, dass das, was sie auf ihren Seiten sehen, der Realität entspricht. Aber wenn ich etwa konservative bis rechtsradikale Einstellungen habe, dann ist die Chance, dass meine Freunde auch diese Meinungen haben, viel größer. Und die Algorithmen zeigen mir dann nur die Artikel, die mein Weltbild bestätigen. Man merkt, wie viel Mobbing in den Sozialen Medien stattfindet, wie wenig die Leute bereit sind, sachlich miteinander zu diskutieren.

Wie kann die Debattenkultur gefördert werden?

Mansour: Man sollte in den Schulen aktiver werden, um Räume zu schaffen, wo man auf Augenhöhe diskutiert, ohne mit Mimik oder Aussagen direkt das Gegenüber abzuwerten.

Ihr Buch ist auch ein Plädoyer gegen den Antisemitismus. Sie schreiben, dass Sie gehofft haben, in Deutschland den notorischen Ablehnungen von allem Jüdischen zu entkommen. Warum ausgerechnet hier?
Mansour: Ich hatte ein Bild von Europa als Kontinent der Aufklärung, wo man wirklich intensiv dafür sorgt, dass antisemitische Einstellungen sich nicht wiederholen. Ich war am Anfang sehr überrascht, dass ich Einstellungen, die ich gerne hinter mir lassen wollte, in Deutschland in noch radikalerer Form begegnet bin. Auch in der Mehrheitsgesellschaft. In diesen Hygiene-Demos findet der Antisemitismus ebenfalls intensiv statt.

Können Sie das näher ausführen?

Mansour: Wenn Sie Attila Hildmann, Reichsbürgern, aber auch denjenigen, die gegen die Masken und Impfstoffe demonstrieren, zuhören, dann werden Sie ganz schnell merken, dass die von einer Elite ausgehen, die die Welt beherrscht. Wenn man zwei, drei Fragen weiterbohrt, dann kommt die Rede auf "die jüdische Elite". Vor ein paar Jahren haben diese Leute versucht ihren Antisemitismus zu verbergen. Heute haben sie keine Probleme zu sagen: "Das sind die Juden."

Es ist also eine Enthemmung zu beobachten.

Mansour: Es gibt zivilgesellschaftliche Erhebungen, etwa von RIAS(Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin, Anm. d. Redaktion), die zeigen, dass antisemitische Straftaten oder Handlungen zugenommen haben.

Was sind die Ursachen?
Mansour: Das hat viele Gründe. Das hat mit der Radikalisierung im rechten Spektrum, auch mit der AfD zu tun, die immer wieder Aussagen tätigt, die sehr antisemitisch sind. Wir haben zudem mit den Flüchtlingen eine Gruppe, die meistens in ihren Ländern antisemitisch sozialisiert ist. Diese Menschen bringen diese Einstellungen auch mit nach Europa.

Inwiefern sind sie antisemitisch sozialisiert?
Mansour: Wenn man Syrien, Irak, aber auch Afghanistan anschaut, dann war auch in der Regime-Einstellung Antisemitismus sehr verbreitet. Ich bin selber mit dem syrischen Fernsehen groß geworden. Die sind immer noch nicht in der Lage, Israel zu benennen. Die reden nur von der zionistischen Existenz, die sie ablehnen. Von Juden, die irgendwie die Welt beherrschen.

Wie kann man dem begegnen?
Mansour: Wir brauchen einen starken Rechtsstaat, der so was verfolgt und klar vermittelt: Das hat in Deutschland nichts zu suchen. Wir brauchen aber auch ein ganz anderes Schulsystem. Unsere ganze Erinnerungskultur ist darauf gebaut, dass der Jude ein Opfer ist von Auschwitz, was auch stimmt. Aber was ist mit den Juden heute? Was ist mit dem Staat Israel? Mit dem Nahostkonflikt? Mit den Menschen, die in München bei der Olympiade umgebracht wurden, weil sie Juden oder Israelis waren? Das sind alles Themen, die in der Schule Beachtung finden müssen.

DK

Das Interview führte
Christine Zinner.

ZUR PERSON
Ahmad Mansour (44) ist arabischer Israeli. Seit 2004 lebt er in Berlin. Der Diplom-Psychologe gründete Anfang 2018 Mind Prevention, eine Initiative für Demokratieförderung und Extremismusprävention. Für seine Arbeit wurde er mehrfach ausgezeichnet. Sein Buch "Solidarisch sein!" erschien im S. Fischer Verlag. Es hat 128 Seiten und kostet 12 Euro.