Ingolstadt
Major Reynolds’ Überleben und Sterben

Auf den Spuren des US-Piloten, der 1944 in Haunwöhr abstürzte und kurz darauf ermordet wurde

20.09.2012 | Stand 03.12.2020, 1:03 Uhr

 

Ingolstadt (PK) Es begann mit dem Artikel über eine Wiese in Haunwöhr im DONAUKURIER. Darin kam Major John Reynolds vor, der dort 1944 den Absturz seines Jagdflugzeugs überlebte und später ermordet wurde. Da meldeten sich Augenzeugen des Crashs. Auch ihre Geschichte erzählt vom Schrecken des Kriegs.

Er kam direkt auf ihn zu. Lärmend und lodernd. Höchstens 60 Meter hoch, mit dramatischem Drall in die Tiefe. Lothar Leinfelder, sechs Jahre alt, stand am Küchenfenster, seine Mutter bereitete das Mittagessen zu. Es war Sonntag, der 10. September 1944, kurz vor zwölf, als das US-amerikanische Jagdflugzeug auf ihr Haus in Haunwöhr zuraste. „Kerzengerade!“ Leinfelder wird den Anblick nie vergessen. „Ich weiß auch nicht, aber der muss mich gesehen haben, so ist es mir jedenfalls vorgekommen, denn plötzlich hat der noch einen Schwenk nach links gemacht.“ Der Bub sah den Piloten mit dem Fallschirm aus der Maschine springen, wenige Sekunden später schlitterte der Einsitzer vom Typ Mustang direkt in den Schwaiger-Weiher, eine ausgetrocknete Kiesgrube östlich der heutigen Spitalhofstraße, Ecke Ferdinand-Maria-Straße, 200 Meter vom Haus der Familie Leinfelder entfernt. Hier brannte das Wrack aus.

Es war das glimpfliche Ende einer Feindberührung. 68 Jahre und ein paar Tage später steht Leinfelder an der Absturzstelle. Sie grenzt ans Schulzentrum Südwest. Der Augenzeuge weiß um die Bedeutung dieses Moments 1944. „Der Pilot muss ein fairer Typ gewesen sein, denn wenn er nicht noch diesen Haken geschlagen hätte, würde es unser Haus wohl nicht mehr geben.“ Leinfelder hält kurz inne. „Und mich auch nicht.“

Er hieß John R. Reynolds, war 29 Jahre alt und Major, also weiß Gott kein Greenhorn mehr. An jenem 10. September 1944 griff er in seiner Mustang P-51D zusammen mit drei anderen Jagdfliegern bei Mendorf einen Zug an. Es wurde aber niemand getötet. In Ingolstadt schossen sie den Gaskessel der Stadtwerke an der Hindenburgstraße in Brand. Zum Glück war er fast leer.

Gegen 11.40 Uhr passierte es. Reynolds geriet ins Visier eines Flugabwehrgeschützes, das von Oberhaunstadt aus feuerte. Die Mustang ging in Flammen auf. Der Major stieg im letzten Moment mit dem Fallschirm aus und schlug 50 Meter neben der zertrümmerten Maschine auf – gleich beim Brosinger-Garten, einer Außenstelle der gleichnamigen Haunwöhrer Gärtnerei; heute steht auf dem Grundstück das Schulzentrum.

Der Pilot humpelte Richtung Unsernherrn, denn er hatte sich am rechten Knie verletzt. Helmut Maurer aus dem Brunnenreuther Weg, damals zehn Jahre alt, rannte zur Absturzstelle und sah Reynolds flüchten. „Der ist zu den Siedlungshäuseln am Pulverl, aber ein Polizist ist ihm gleich hinterher“, erzählt Maurer. Wohin genau, ist schwer zu beschreiben, „denn früher ist da ja fast alles unbebaut gewesen“. Die Haunwöhrer Straße war eine Schotterpiste, die Zeppelinstraße ein Trampelpfad, die Maximilianstraße gab es 1944 gar nicht. „Ein Nachbar war beim Volkssturm und hat sofort sein Gewehr aus dem Keller geholt. Die Leute sind von überall her zusammengelaufen.“ Auch der kleine Helmut interessierte sich weniger für den Piloten als vielmehr für das Wrack. „Da hat’s noch wochenlang gestunken.“

An der Stelle beginnt der düstere Teil der Geschichte. Die von Reynolds’ Sterben nach seinem Überleben. Hans Fegert hat den Fall gründlich erforscht. In seinen Büchern „Luftangriffe auf Ingolstadt“ (1989) und „Angriffsziel Ingolstadt (2010) schildert er, was dann geschah. Der Polizeimeister Martin Frank fasste den Piloten und brachte ihn ins Revier an der Münchener Straße. Dort verarztete ein Dr. Götz den Amerikaner. Wenig später trafen Oberbürgermeister Josef Listl und der NSDAP-Kreisleiter Georg Sponsel ein. Listl hasste den aus Kulmbach zugereisten Parteisoldaten, weil der ein fanatischer Nationalsozialist war, wie man schon an Sponsels Hitler-Schnauzbart erkannte.

Der Pilot sollte zum Fliegerhorst Manching gefahren werden, so war es Vorschrift. Der Kommandant, Oberstleutnant Höpker, kam auf die Wache, um ihn abzuholen. Aber Sponsel setzte durch, den Gefangenen selber zu chauffieren – angeblich, um ihn unterwegs zu befragen. Der Parteigenosse Josef Ziehnert stieg mit in den Wagen. Doch statt nach Manching brachten sie Reynolds zum Auwaldsee – und erschossen ihn.

Auf der Flucht, sagten sie. Eine Lüge. „Er konnte ja nur humpeln“, erklärt Fegert. Außerdem war der Schuss aus kurzer Distanz auf den Hinterkopf des Piloten abgegeben worden. Das hatte Johann Schilcher, Hauptmann der Schutzpolizei, sofort herausgefunden, als er die Leiche untersuchte. Schilcher ermittelte im Auftrag des Oberbürgermeisters – streng geheim an der NSDAP vorbei, denn Listl sammelte alles, was sich gegen Sponsel verwenden ließ. Den Bericht leitete er an die Gestapo und die Staatsanwaltschaft weiter; beide ignorierten ihn.

Die Amerikaner waren um so dankbarer für das Beweismaterial. 1946 stellten sie Sponsel und Ziehnert vor Gericht. Beide wurden 1947 hingerichtet. „Man tut dem Listl Unrecht, wenn man immer nur erwähnt, dass er in der NSDAP war“, sagt Fegert. „Er war kein schlechter Typ.“ Der Mord sei damals bekannt gewesen und mit Entsetzen weitererzählt worden, berichten Maurer und Leinfelder. „Das waren schließlich nicht alles Nazis.“ Auch deshalb hat Fegert einen Vorschlag. Er weiß, dass die Mittelschule neben der Absturzstelle einen neuen Namen sucht. „Warum nicht Major-John-Reynolds-Schule? Das ist zwar gewagt, weil die Tiefflieger auf alles geschossen haben, was sich bewegt hat, aber es würde ein schönes Zeichen setzen.“ „Gute Idee!“, sagt Maurer. „Gern!“, ergänzt Leinfelder. „Weil Reynolds unser Haus verschont hat. Und unser Leben.“