Kothau
Kühe melken bei Kerzenlicht

100 Jahre Strom in Ingolstadt – ein Bauernhof in Kothau ist erst seit 1962 ans Netz angeschlossen

23.06.2014 | Stand 02.12.2020, 22:33 Uhr

Auf neuestem Stand: Magdalena und Franz Kestler am Zaun ihres Anwesens in Kothau. Im Hintergrund verlaufen die elektrischen Leitungen, um die der Vater von Magdalena Kestler 35 Jahre lang gekämpft hat. Sie wurden vor Kurzem erneuert - Foto: Brandl

Kothau (DK) Bis 1962 war ein Alltag ohne Elektrizität für Magdalena Kestler etwas völlig Normales. Während in Ingolstadt seit 1914 Strom aus der Steckdose fließt, gab es auf dem Bauernhof der Familie nur Kerzen, Gaslicht und höchstens eine Taschenlampe. Der Vater kämpfte lange um den Anschluss ans Netz.

Ein Leben ohne Elektrizität scheint heute für die meisten Menschen undenkbar. Genau 100 Jahre ist es her, dass in Ingolstadt das Stromzeitalter begann. Am 1. Juni 1914 standen die Leitungen erstmals unter Spannung. Ein Jubiläum, das die Stadtwerke das ganze Jahr über groß feiern.

Magdalena Kestler aus Ko-thau kann sich aber noch gut an eine Zeit ohne Strom erinnern, die nicht so weit zurückliegt. Die 81-Jährige bewohnt im Südosten von Ingolstadt – ein gutes Stück abgelegen von der nächsten Siedlung, zwischen hohen Bäumen und Äckern – mit ihrem Mann Franz (79) ein gut 100 Jahre altes Haus. Es ist das Elternhaus von Kestler, in dem sie mit ihren sechs Geschwistern aufgewachsen ist. Der Vater, Georg Wagner, war Landwirt und hatte das Häuschen samt Hof in den 1920er Jahren gekauft. Auf den ersten Blick sieht man dem Gebäude seine lange Geschichte nicht an. Mittlerweile hat es einige Modernisierungen über sich ergehen lassen. Zuletzt vor drei Monaten, als die Stromleitung zum Haus neu verlegt wurde. Die alte bestand aus drei Kabeln. Jetzt führt nur noch eine Ader über den Holzmasten zum Dach. So müsse der alte Walnussbaum im Garten wegen der Kabel nicht mehr ausgeschnitten werden, erklärt Franz Kestler. Denn da habe es manchmal schon gefunkt, wenn Äste in die Leitungen geschlagen sind, sagt er.

Bis 1962 mussten er und seine Frau, deren Eltern und die Geschwister den Alltag noch ganz ohne Strom bewältigen. Magdalena Kestler erinnerte sich zurück an diese harte Zeit, als sie vor einigen Wochen im DK einen Bericht über 100 Jahre Stromversorgung in Ingolstadt las: „Wenn es dunkel war, dann konnten wir Räume und Stallungen nur mit Petroleumlampen, Kerzen und Gasbrennern beleuchten“, erzählt sie. Die Wäsche wurde mühsam mit der Hand im Brunnen gewaschen und zum Bügeln verwendete die Familie ein Eisen, das mit glühenden Kohlen aufgeheizt wurde. „Passt auf“, sagte der Vater mit erhobenem Finger zu den Kindern, wenn diese mit der flackernden Funzel in den Stall marschierten, um die Kühe zu melken. Denn die Angst vor einem Brand war ein ständiger Begleiter. „Passiert ist aber nie etwas“, sagt Kestler. Die Anstrengungen und Beschwerlichkeiten stecken ihr jedoch bis heute in den Gliedern: „Wenn ich in einem Geschäft Laternen sehe, mache ich einen weiten Bogen darum.“

35 Jahre lang lebte die Familie ohne Strom. Nur zum Lesen konnten sich die Kinder im Bett manchmal mit einer Taschenlampe behelfen. Dann endlich fand Wagner „im wahrsten Sinne des Wortes den Anschluss an die Neuzeit, sprich an die elektrische Stromversorgung“, berichtete der DONAUKURIER vor über 50 Jahren über das Ereignis. „Und dies alles, obwohl sich sein Domizil nur hundert Meter von den Amperwerken entfernt befindet, obwohl zahlreiche Hochspannungsleitungen an seinem Haus in alle Richtungen vorbeiführen.“ Der Anschluss an die Stromversorgung scheiterte am Widerstand eines Nachbarn, der sich der Elektrizität vehement verweigert hatte. Der „letzte Mohikaner des Petroleumzeitalters“, wie die Heimatzeitung Wagner damals betitelte. Er und zwei weitere Nachbarn ließen sich jedoch nicht von ihrem Vorhaben abbringen. 2600 Mark musste schließlich jeder von ihnen berappen, um endlich Licht machen zu dürfen. So viel kostete die Verlegung von 86 Metern Kabel und das Aufstellen von sechs Masten. „Mein Vater war immer ein Kämpfer für das Moderne“, erzählt Kestler. Den Kampf um den Strom gewann er mit 71 Jahren.

Zuerst schafften sich die Wagners einen Kühlschrank an, den der Vater seinerzeit dem DK-Reporter stolz für ein Foto präsentierte. „Ich habe sofort das batteriebetriebene Radio rausgeworfen und ein neues gekauft“, berichtet Franz Kestler, der damals – seine Frau und er heirateten 1957 – mit im Haus lebte. Dann verlegte er nach und nach die Stromleitungen in die Wand. „Das war ja alles provisorisch auf dem Außenputz angebracht.“ Ein weiterer angenehmer Nebeneffekt der lange herbeigesehnten Elektrifizierung: Im Haus wurden endlich auch Wasserleitungen verlegt. „Wir hatten bis dahin Hauswasser und kein Stadtwasser“, erzählt Franz Kestler. Der Brunnen befindet sich bis heute im Keller.

Die Kestlers sind stolz darauf, diese Zeit gemeistert zu haben. „Wir haben das damals geschafft, weil wir es nicht anders wussten. Auf jeden Fall war der Stromanschluss aber eine Erleichterung“, ist sich Magdalena Kestler heute bewusst. „Wir sind glückselig, dass wir das noch erleben durften.“