"Killerspiele" nicht allein verantwortlich

13.03.2009 | Stand 03.12.2020, 5:07 Uhr

Kreisjugendpfleger Manfred Liesaus sieht die Eltern in der Verantwortung, sich über die neuen Medien besser zu informieren, damit sie die Nutzung beispielsweise von Handy und Internet ihrer Sprösslinge besser kontrollieren und kritisch begleiten können. - Foto: Moser

Pfaffenhofen (PK) Der Amoklauf eines 17-Jährigen in Winnenden lässt erneut danach fragen, ob so genannte Killerspiele im Internet oder auf Spielekonsolen für solche gewalttätigen Exzesse mit verantwortlich gemacht können. PK-Mitarbeiter Martin Moser befragte zu dem Thema einen 21-jährigen "Spieler der ersten Stunde", der anonym bleiben möchte. Andreas M. (Name geändert) ist ein ausgewiesener Kenner der Szene und des Internets. Stellung zum Thema nimmt außerdem Manfred Liesaus, Kreisjugendpfleger. Der Medienexperte hält regelmäßig Vorträge, um Eltern und Jugendliche über neue Medien (Internet, Handy, Computerspiele) aufzuklären.

Können so genannte Killerspiele wie Counter-Strike mit verantwortlich für Amokläufe wie jetzt in Winnenden sein?

Andreas M.: Immer wenn das Entsetzen so groß ist, dass einem wirklich die Worte fehlen, dann muss schnell eine einfache Erklärung her. So steht der Sündenbock für Medien und Politik sofort fest: "Killerspiele". Ein Kampfbegriff aus der Politik, der nur sehr vage definiert ist und Computerspiele beschreiben soll, in denen Gewalt verherrlicht wird. Eigentlich sind damit aber so genannte "Egoshooter" gemeint, wie das bekannte Mehrspieler-Spiel "Counter-Strike", in dem sich Spezialkräfte und Terroristen gegenseitig zur Strecke bringen. Eine Art modernes "Räuber und Gendarm" in der virtuellen Welt. Da dieses uralte Spielprinzip schon von Kleinkindern verstanden wird, sollte eine Differenzierung zwischen realer und virtueller Welt für einen Jugendlichen kein Problem sein. Es wäre ja schlimm, wenn so genannte "Killerspiele" wie Counter-Strike einen direkten Einfluss auf Amokläufe hätten, denn bei weit mehr als eine Millionen Spielern, alleine in Deutschland, könnte man sich ja kaum noch aus dem Haus trauen.

Manfred Liesaus: Es gibt Menschen, die diesen Bereich gerne als Sündenbock hernehmen möchten, das scheint unheimlich praktisch. Ich persönlich finde diese gewalttätigen Computerspiele nicht unbedingt toll. Aber wenn wir davon ausgehen, dass sie die Jugendlichen gewalttätig machen, hätten wir Millionen gewalttätiger Jugendlicher. Ich kenne sehr viele junge Leute, die auch solche Spiele spielen, aber trotzdem unheimlich nette Menschen sind, die auch nicht gleich Amok laufen.

Sollte der Staat derartige Spiele verbieten? Oder würden strengere Altersgrenzen helfen?

Andreas M.: Wir haben in Deutschland eines der strengsten Jugendschutzgesetze in ganz Europa. Neben der "Unterhaltungssoftware Selbstkontrolle" (USK), die verantwortliche Stelle für die Alterskennzeichnung von Computerspielen in Deutschland, existiert noch die Möglichkeit der Indizierung durch die "Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien" (BPjM) und die Beschlagnahme durch die Strafverfolgungsbehörden. Trotzdem versuchen konservative Politiker diese Kontrollmechanismen noch weiter zu verschärfen und den Zugang auch für Berechtigte immer mehr zu erschweren. Diese Anstrengungen könnten sich vielleicht bald als umsonst erweisen, da das EU-Parlament die USK mit dem weit lascherem europäischem Gremium, der PEGI (Pan European Games Information) ablösen will. Dies geschieht zur Angleichung mit den Jugendschutzgesetzen anderer EU-Länder. Doch egal ob USK oder PEGI, Jugendschutz funktioniert nur, wenn alle mitspielen. Es hilft nichts, Computerspiele ab 18 freizugeben, wenn der Jugendliche sich das Spiel über erwachsene Freunde, die Eltern, ausländische Shops oder illegal im Internet besorgt.

Manfred Liesaus: Unter anderem bin ich bayerischer Gutachter beim USK. Es ist wissenschaftlich nicht beweisbar, dass Killerspiele solche Taten auslösen. Jedes Jahr kommen ungefähr 3000 neue Spiele auf den Markt, die eine Freigabe haben wollen. Über 80 Prozent bekommen eine Freigabe bis ab 12 Jahren. 48,6 Prozent sogar ohne Altersbeschränkung. Ohne Jugendfreigabe, also Spiele ab 18 Jahren, sind es 5,2 Prozent. Nur bei 1,4 Prozent verweigern wir die Kennzeichnung. Ein Computerspiel ist nicht automatisch ein Ego-Shooter. Geschicklichkeitsspiele, Sportspiele, Karaoke, Simulationen nehmen einen ganz großen Bereich ein. Erst an fünfter, sechster Stelle kommen in der Beliebtheit der Jugendlichen die Shooter. Mich amüsiert es, wenn wieder die Forderung nach einem Verbot von Gewalt verherrlichenden Spielen aufkommt. In Deutschland sind Gewalt verherrlichende Spiele bereits verboten. Bei den legalen Spielen haben die Eltern und die Verkäufer eine gewisse Verantwortung, dass Jugendliche nicht in den Besitz von nicht jugendfreien Spielen gelangen. Wenn es Jugendlichen möglich ist, diese dennoch zu bekommen, helfen auch keine stärkeren Jugendschutzbestimmungen.

Steigt die Gewaltbereitschaft durch Killerspiele und sinkt die Hemmschwelle für Gewalt?

Andreas M.: Anders als in den Medien propagiert, gibt es bis heute keine Beweise, dass Gewaltspiele die Gewaltbereitschaft steigern beziehungsweise die Hemmschwelle für Gewalt senken. Es gibt sogar mehr Studien, die das Gegenteil behaupten und positive Effekte hervorheben, wie einen Aggressionsabbau oder ein gesteigertes Maß an sozialer Kompetenz, erzeugt durch die Kommunikation mit den Mitspielern und strategischem Vorgehen. Die Harvard Medical School untersuchte über einen Zeitraum von zwei Jahren 1200 Schülerinnen und Schüler mit dem Ergebnis, dass es keinen nachweisbaren Zusammenhang zwischen Gewalt auf dem Bildschirm und Gewalt im Alltag gibt. Dies wurde durch eine Studie der Universität Bremen bestätigt, die zeigen konnte, dass bei Spielszenen und echten Gewaltszenen verschiedene Teile des Großhirns beziehungsweise des limbischen Systems angesprochen werden. Obwohl man bei Computerspielen selbst agiert und die Handlung steuern kann, fand die Universität Tübingen heraus, dass der Konsum von Horror- und Gewaltfilmen oder von Ego-Shootern nie der alleinige Auslöser für Ausraster im echten Leben sind.

Manfred Liesaus: Generell, für ganz ungefährlich halte ich Gewaltspiele nicht. Aber es gibt keinen monokausalen Grund, dass etwas passiert. Wenn vieles zusammenkommt, können Computerspiele eine Rolle spielen. Sie allein dafür verantwortlich zumachen, geht nicht. Außerdem sucht sich jeder die Spiele heraus, die zu den eigenen Interessen passen. In der Regel hat jeder natürliche Vorbilder, wie Eltern, Lehrer, Freunde. Wenn diese jedoch fehlen, ist die Gefahr da, dass ich mir Vorbilder aus den Medien herausnehme. Ein normaler Spieler ist sich aber bewusst, dass er nicht auf Menschen schießt, sondern auf Pixel, die, wenn man das Spiel neu startet, wieder erscheinen und nicht tot sind. Die allermeisten Jugendlichen können zwischen Realität und Virtualität unterscheiden.

Was könnten denn Auslöser für einen Amoklauf sein?

Manfred Liesaus: Man muss auch sehen, dass es heutzutage wesentlich schwieriger ist, ein Jugendlicher zu sein, als noch vor zwanzig Jahren. Früher waren es vier, fünf Werte, nach denen man sich gerichtet hat. Heute habe ich zig Werte und die Erwachsenen wissen schon gar nicht mehr, woran sie sich halten müssen. Wie soll es dann der Jugendliche? Auch das Umfeld in der Familie oder in der Schule spielt eine Rolle, wenn dieses von Gewalt geprägt ist. Wie kommen Jugendliche überhaupt an Waffen heran? Die besorgen sich diese nicht im Ausland, sondern gehen zum Waffenschrank des Vaters. Wir haben nicht mehr so die funktionierenden Familien. Früher hatte man seinen Beruf ein Leben lang, heute muss man davon ausgehen, mehrmals seinen Beruf zu wechseln. Damit einher geht dann auch oft ein Wohnungswechsel. Die Kids werden also aus ihrem gewohnten Umfeld gerissen. Meistens schaffen sie es, sich wieder zu integrieren, einige wenige aber nicht. Die Jugendlichen haben außerdem auch mehr Möglichkeiten, an Gewaltspiele und Videos, beispielsweise im Internet, zu gelangen. Bei uns ging das damals nur im Kino, wenn man es schaffte, an der Kassiererin vorbeizukommen. Heute ist es für Jugendliche kein Problem mehr im Internet alles zu sehen.

Andreas M.: Da sich die meisten Amokläufer am Ende ihrer Tat selbst das Leben nehmen, kann man über die Gründe im einzelnen nur spekulieren. Als Auslöser eines Amoklaufs werden oft eine fortgeschrittene psychosoziale Entwurzelung des Täters, der Verlust beruflicher oder schulischer Integration durch Arbeitslosigkeit, Rückstufung oder Nicht-Versetzung, zunehmend erfahrene Kränkungen sowie Partnerschaftskonflikte genannt. Meist treffen mehrere Faktoren zu, die dann ein explosives Gemisch ergeben. Aus Abschiedsbriefen oder -videos geht hervor, dass Amokläufer oft mit ihrem Leben, dem System, in dem sie sich befinden, und ihrer Gesamtsituation unzufrieden sind. Manche nutzen auch den Nebeneffekt, für einen kurzen Augenblick berühmt zu werden, und setzen sich in Videos, die sie im Internet veröffentlichen, in Szene.

Was könnte man im Vorfeld gegen einen Amoklauf tun?

Andreas M.: Einen Sicherheits- und Überwachungsapparat nach amerikanischen Vorbild mit Sicherheitsschleusen und Metalldetektoren aufzubauen, wie es bereits gefordert wurde, halte ich für eine schlechte Idee. Was wirklich helfen könnte, wäre geschultes Fachpersonal, wie Schulpsychologen, Vertrauenslehrer oder andere Ansprechpartner. Diese müssen nicht nur auf offensichtliche Problemfälle eingehen, sondern auch die Probleme von unauffälligen Schülern erkennen. So trauen sich Mobbingopfer meist nicht, den ersten Schritt zu tun und von sich aus Hilfe zu suchen. Wenn ein Schüler die Klasse beziehungsweise Schule nicht schafft, dann darf man ihn nicht unvorbereitet entlassen, sondern muss neue Perspektiven aufzeigen und ihm helfen, wieder Fuß zu fassen. Es ist nötig, dass Eltern, Mitschüler und Schule besser zusammenarbeiten um potenzielle Amokläufer früh zu erkennen und Maßnahmen ergreifen können. Zu guter Letzt sollten sich Eltern, Politiker und Medien besser über das Thema "Killerspiele" informieren, um besser mit den Jugendlichen über dieses Thema diskutieren zu können.

Manfred Liesaus: Im Landkreis Pfaffenhofen versuchen wir den Eltern zu helfen, ihnen Medienkompetenz zu vermitteln. Wir machen beispielsweise einen Thementag "Gewaltige Medien" am 25. April, an dem wir die Eltern informieren wollen. Eindeutig kann man nicht sagen, was richtig ist. Auch die Politiker drücken sich um diese Frage herum. Wir müssen wieder lernen, dass wir eine Gemeinschaft sind. Wenn eine Gemeinschaft funktionieren soll, muss jeder etwas dazu beitragen, mehr auf den anderen hören und weniger egoistisch sein. Amokläufe kündigen sich im Voraus in irgendeiner Form an. Wenn ich mich nur um mich selber kümmere, besteht die Gefahr, dass ich so etwas nicht höre. Wir müssen wieder mehr zu einem System kommen, in dem man sich untereinander austauscht und sich gegenseitig hilft. Eltern müssen außerdem mehr Medienkompetenz erlangen, um mit ihren Kindern mithalten zu können und ihrer Verantwortung gerecht werden zu können.