Ingolstadt (DK) Die Häuser an der Stargarder Straße sind leer. In den nächsten Wochen beginnt der Abriss. Für ein Wochenende zieht allerdings noch einmal eine künstlerische Wohngemeinschaft ein. Sie verwandelt Bäder, Wohnzimmer, Abstellkammern und Küchen in Kunsträume.
Eine gesamte Wohnung zu weißeln, obwohl man weiß, dass das Haus in einigen Wochen abgerissen wird, das "machen eigentlich nur Verrückte", ist Karin Roth überzeugt. Sie muss es wissen, schließlich hat sie genau das gerade gemacht. Derzeit bemalt sie die grundierten Wände mit grafischen Linien, dazu den Boden und die Decken. Auch in acht weiteren Wohnungen des dem Abriss geweihten Hauses Stargarder Straße 15a wird derzeit gesaugt, hergerichtet, aufgebaut, gestaltet und umdekoriert. In der Nachbarschaft fragt man sich mittlerweile schon, was das für komische neue Bewohner sind, die in das Gebäude eingezogen sind, das doch erst vor wenigen Wochen geräumt worden ist.
Die insgesamt 17 neuen Hausbewohner sind alle Mitglieder im Berufsverband Bildender Künstlerinnen und Künstler Oberbayern Nord und Ingolstadt (BBK). In Absprache mit der Gemeinnützigen Wohnungsbaugesellschaft (GWG) verwandeln sie die verlassenen Wohnungen in Kunsträume auf Zeit. Vom Freitag, 17., bis Sonntag, 19. November, wird das Haus dann für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Das Mietshaus aus den frühen 1970er-Jahren wird so kurz vor seinem Abriss zu einem Kunstmuseum. "Wir bemühen uns immer, Künstler zu unterstützen", sagt Alexander Bendzko, technischer Leiter der GWG. Tatsächlich gilt die Gesellschaft etwa, was Kunst am Bau betrifft, als engagierter Unterstützer der regionalen Szene. Ein Kunstprojekt dieser Größe ist allerdings auch für die GWG eine Premiere.
Werner Kapfer, Vorsitzender des BBK, freut sich über die Möglichkeit, die Arbeit der Künstler mit der Aktion "direkt mit der Stadt zu verbinden. Das bringt die Kunst ganz nahe ans Leben." Schließlich ist eine Wohnung ein besonderer Raum. Sie ist aufgeladen mit persönlichen Erinnerungen, voller privater Bedeutung. "Die Künstler schaffen darin natürlich etwas Neues, diese Erinnerungen können dabei aber nicht ignoriert werden", sagt Kapfer.
Das gilt wohl für niemanden so stark wie für Leonore Weiss. Sie gestaltet die Wohnung rechts im ersten Stock. Es ist die Wohnung, in der sie aufgewachsen ist. Bis vor wenigen Wochen lebte hier noch ihre 84-jährige Mutter, bevor sie umziehen musste. Leonore Weiss hatte die Idee zu dem Projekt, das jetzt den Titel "Location occupied for time" bekommen hat. "Ich habe den Vorschlag zuerst meiner Mutter gemacht, und der hat es sofort gefallen", erzählt sie. Für die beiden sei es die Möglichkeit, das Haus zu verabschieden. "Aber nicht als Anklage", betont die Künstlerin. Schließlich sei das Leben ein Prozess und auch Abschiede gehörten dazu. Solche Veränderungen prägen auch die Natur, mit der sich Weiss in ihrer künstlerischen Arbeit gerne beschäftigt. In das Wohnzimmer hat sie etwa einen Baumstamm drapiert, dessen Äste und Zweige sie malerisch über die Decken und Wände weiterführt. "Für mich ist diese Wohnung noch immer ,Daheim'", sagt sie. Ein Baum erschien ihr deswegen logisch. "Alles, was ich bin, hat hier seine Wurzeln." Auch in ihr einstiges Kinderzimmer hat sie die Natur gebracht, die vor dem Fenster vor allem in den hohen Nadelbäumen entlang der Südlichen Ringstraße deutlich werden. "Als Kind habe ich hier gerne hinausgeschaut", erzählt sie. Damals gab es die große Straße noch nicht, es war ruhiger, man konnte die Geräusche der Bahnbrücke hören, und durch die Zweige schimmerte noch nicht die bunte Fassade des Wonnemar. Weiss versieht die Fensterscheibe mit einem filigranen Vorhang aus gelben Blütenblättern. Sie bilden den farbigen Kontrast zum dunklen Grün im Garten. Im Wohnzimmer stehen noch einige Möbel ihrer Mutter. Die weiche Polstercouch zum Beispiel, darüber ein Gemälde von Leonore Weiss' Großvater. Es wird für die Ausstellung hängen bleiben.
Im Erdgeschoss arbeitet derweil Gerhard Brandl in "seiner" Wohnung. Er setzt sich dabei mit den aktuellen Jamaika-Sondierungen in Berlin auseinander. Er gemahnt die Möchtegern-Koalitionäre in drastischen und eindringlichen Installationen an die Themen, die er behandelt wissen möchte - darunter Kindersoldaten, Umweltverschmutzung und daraus resultierende Krankheiten, Welthunger, Rechtsradikalismus und Überbevölkerung. Zwei Stockwerke darüber kam sich Ludwig Hauser in seiner Auseinandersetzung mit der Wohnung "fast wie ein Archäologe" vor. Er hat versucht, die Spuren der ausgezogenen Mieter zu deuten und fragte sich: "Was ist hier passiert? Ist überhaupt was passiert" Hauser vermutet, dass die Wohnung lange von einem Menschen alleine bewohnt wurde. Vielleicht hat sich wenig verändert. Vielleicht ist einfach nur die Zeit vergangenen. Mit einem Vorschlaghammer hat Hauser die Wohnung jetzt - wenn man so will - brachial mit einem Ausweg versehen.
Etwas filigraner geht es in der Wohnung von Sonja Reuthlinger zu, die Gewebereste der Firma Rieter zu einem Netzwerk verbindet. Auch ihr Sohn ist beteiligt, der das Netz um eine Arbeit zum virtuellen, weltweiten Netz ergänzt. Unter dem Pseudonym "Die besonderen 2" gestaltet derweil ein junger Künstler seine Wohnung einige Etagen darüber. Im Keller hat er fast 2000 Plastikbecher gefunden. Die ordnet er jetzt im ehemaligen Wohnzimmer der Wohnung zu einem "Turm der Verschwendung" auf. Licht und Ton werden das Werk komplettieren und einen weiteren Mosaikstein im Gesamtkunstwerk Stargarder Straße bilden.
Das Kunsthaus in der Stargarder Straße 15a (an der Südlichen Ringstraße gegenüber vom Wonnemar) ist unter dem Motto "Location occupied for time" am Freitag, 17. November, von 17 bis 23 Uhr, am Samstag, 18. November, von 15 bis 23 Uhr und am Sonntag, 19. November, von 13 bis 18 Uhr geöffnet.
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