Eichstätt
"Freiheit ist nicht selbstverständlich"

Der DDR-Zeitzeuge Jens Hase sprach vor Schülern der Knabenrealschule Rebdorf über seine Flucht in den Westen

20.03.2017 | Stand 02.12.2020, 18:28 Uhr

Im Anschluss an seinen Zeitzeugenbericht stellten die Zehntklässler der Knabenrealschule Jens Hase viele Fragen. - Foto: Steimle

Eichstätt (EK) An die letzten Meter seiner Flucht kann sich Jens Hase nicht mehr erinnern. Hinter ihm die tschechische Miliz, vor ihm der Zaun der deutschen Botschaft in Prag. "Dann saß ich da im Dreck, ich blutete und jemand legte mir die Hand auf die Schulter und sagte, willkommen in Deutschland, du hast es geschafft." Eineinhalb Stunden sprach der 47-Jährige, der im September 1989 aus der ehemaligen DDR flüchtete, vor Zehntklässlern der Knabenrealschule Rebdorf - und diese hörten gebannt zu.

Als er im Westfernsehen sah, dass schon viele Ostdeutsche über Ungarn flohen, "hat es bei mir Klick gemacht", erinnert sich der gebürtige Eisenacher. Der damals 19-Jährige stopfte ein paar Sachen in seinen Rucksack und stieg in den Zug nach Prag - denn es hatte sich herumgesprochen, dass dort viele auf ihre Ausreise in den Westen hofften.

An der Grenze wurde er von einer DDR-Zöllnerin kontrolliert. Als sie ihn fragte, was er in Prag wolle, begann Jens Hase zu stottern und behauptete, er wolle seinen Freund Pavel besuchen. "Ich hatte mir keine gute Geschichte zurechtgelegt, und als sie nach seinem Nachnamen fragte, konnte ich nichts mehr sagen." In einer schmutzigen Zugtoilette musste sich der junge Mann nackt ausziehen und durchsuchen lassen. "Ich habe leise vor mich hingeweint", sagt der 47-Jährige, im Festsaal der Knabenrealschule herrscht absolute Ruhe, die Schüler sitzen still da. "Dann kam ein anderer Zöllner und sagte zu der Frau, dass der Zug jetzt weiterfahren müsse." Jens Hase blieb allein zurück.

Seiner Flucht waren vielfältige Schikanen vorausgegangen. Die Haltung seiner Eltern sei von Beginn an systemkritisch gewesen, erklärt der Günzburger, der heute in der Jugendarbeit in Augsburg tätig ist. Er selbst zeigte vor allem mit seinem Äußeren - langen Haaren und bunten Hosen - , dass er wenig von stromlinienförmigem Verhalten hielt. Die kurze Festnahme seines Bruders, Lohnkürzungen, die mehrfache Aufforderung für die Staatssicherheit als Inoffizieller Mitarbeiter zu arbeiten - die Ablehnung des Systems sei über die Jahre gewachsen.

Als sein Vater einen Herzinfarkt erlitt, entschieden sich die Eltern, Ausreiseanträge zu stellen, "denn wir hofften, dass man ihm im Westen besser helfen kann". Im Juli 1989 durften sie dann das Land verlassen, allerdings ohne ihren Sohn Jens, der alleine am Bahnsteig zurückblieb. "Das war damals ein Abschied für immer für mich."

Die verzweifelte Suche nach der Botschaft in Prag, die Wochen, die er dort mit 4000 anderen DDR-Flüchtlingen verbrachte - Jens Hase erzählt seine Geschichte detailgenau und erklärt außerdem, wie er sich gefühlt hat, was ihm durch den Kopf ging.

"Den schönsten Moment meines Lebens" aber zeigt er anhand eines Videos: "Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise...", verkündete der damalige Außenminister Hans-Dietrich Genscher die Aufnahme in die BRD, die im Jubel der Flüchtlinge unterging. Eine Szene, die Jens Hase, das sieht man ihm an, auch so viele Jahre später noch bewegt.

Das Wechselbad der Gefühle war für den jungen Mann aber damals noch nicht vorbei, denn der Zug, der sie in die Freiheit bringen sollte, musste durch DDR-Gebiet fahren. "Anfangs wollte ich auf keinen Fall einsteigen, da war die Angst sofort wieder da." Das ging auch den anderen so, es herrschte angespannte Ruhe, bis der Zug in Dresden hielt. "Da stand ein einziger kleiner Polizist auf dem Bahnsteig und das war ja unser Feindbild Nummer eins. Den haben wir dann alle wüst beschimpft."

In Hof standen tausende Menschen auf dem Bahnsteig, um die Ankömmlinge zu begrüßen. In der Bahnhofsmission gelang es den Mitarbeitern, die Telefonnummer der Eltern herauszufinden. "Papa, ich bin da, ich komme", war alles, was Jens Hase sagen konnte, dann begann er zu weinen, "und mit mir die ganze Bahnhofsmission". Auch über seine Ankunft in Schwaben und seinen Start ins Berufsleben berichtet der 47-Jährige.

Dann haben die Schüler viele Fragen. "Haben Sie noch Kontakt zu den anderen Flüchtlingen" - "Zu vielen, ja, wir treffen uns regelmäßig in Prag." - "Was ist mit ihren Sachen passiert, die Sie zurückgelassen haben" - "Alles weg, aus meiner Kindheit gibt es noch elf Fotografien, sonst nichts."

"Glauben Sie, dass Sie heute in der Freiheit angekommen sind", will dann noch ein Zehntklässler wissen. "Ja", antwortet Jens Hase, ob es eine noch vollkommenere Freiheit gebe, wisse er nicht, aber: "Freiheit ist nicht selbstverständlich und es lohnt sich jeden Tag, dafür zu kämpfen."