München
Fantastisch und realistisch

Die Internationale Jugendbibliothek München zeigt Illustrationen des russischen Künstlers Igor Oleynikov

10.11.2021 | Stand 23.09.2023, 21:45 Uhr
Reale und surreale Blicke auf den Alltag: Der russische Illustrator Igor Oleynikov erzählt Märchen, Klassiker und Gedichte neu und mit sozialkritischem Ansatz. Die Ausstellung in der Internationalen Jugendbibliothek München zeigt seine Illustrationen als begehbare Erlebniswelt. −Foto: Oleynikov

München - Da steht der Wolf neben dem Wildschwein-Eber in der U-Bahn, spricht ihn an, lenkt ihn so ab und - schwupp - gelingt der Griff zum Geldbeutel. So geht es - mit List Mächtigere übertölpeln. Die Szene gehört zu einem der mehr als 90 Kinder- und Künstlerbücher, die der russische Illustrator Igor Oleynikov seit den 1980er Jahren illustriert hat. Knapp 50 seiner dafür überwiegend in Gouache-Technik entstandenen Bilder sind bis 8. März 2022 in der Wehrgang-Galerie und im Lesesaal der Internationalen Jugendbibliothek in Schloss Blutenburg München zu sehen.

Kuratiert hat die Schau, die Bücher und großformatige Drucke ausgewählter Illustrationen zeigt, die Lektorin für osteuropäische Kinder- und Jugendbücher der Bibliothekarischen Dienste Katja Wiebe.

Die Slavistin verwandelt die architektonischen Gegebenheiten von Schloss Blutenburg in Erlebniswelten. So geht es durch den Wehrgang wie in einem der langen U-Bahn-Gänge vorbei an Tierporträts, die Oleynikov unter anderem Geschichten des niederländischen Kinderbuchautors Toon Telegen gezeichnet hat. Denn vier Bücher Telegens sind ins Russische übersetzt worden.

Der Wehrgang endet in einem Zwischenraum, der mit Original-U-Bahn-Sitzen, Gepäckablagen samt karierten Plastikkoffern und einer Original-Notbremse zum U-Bahn-Abteil wird, wo sich jene Szene des Taschendiebstahls abgespielt haben könnte. Hier sind weitere Szenen aus Bilderbüchern als Repros und, in einer Wandnische, als Diorama zu sehen. Zum Schmökern liegen auch andere Bücher wie "Teremok", ein bekanntes russisches Tiermärchen vom "Kleinen Häuschen im Wald" bereit. Das hat Igor Oleynikov mit seinen Bildern ins Heute übertragen. Das Häuschen steht nicht im Wald, sondern am Rande einer Stadt, wo sich kleine Wesen mühsam durchschlagen.

Auf die gleiche Art und Weise hat Oleynikov das Märchen vom Fuchs und dem Hasen ("Lisa i zayac") neu gedeutet, in dem der Fuchs den Hasenbau besetzt, der Hase in eine Notunterkunft muss und dort auf andere aus ihren Wohnungen vertriebene Tiere trifft - wie es Menschen in Städten passiert. Mit kritischem Blick auf das soziale Miteinander, auf die am Rande der Gesellschaft Lebenden überträgt der 1953 geborene Künstler Märchen und Geschichten in fantasievolle Welten und szenisch so realistisch, dass man meint, ein Filmstill zu sehen. "Igor Oleynikov, der nie eine künstlerische Ausbildung erhielt, startete in den 1970er Jahren in der damaligen Sowjetunion als Gestalter von Zeichentrickserien. Daher rührt dieser treffende Blick auf die Szene", erzählt Kuratorin Wiebe. In den späten 80er Jahren entwickelte Oleynikov seine Bildsprache weiter.

Durch extreme Perspektiven und Blickwinkel verzerrt er realistische Szenerien, um auf diese Weise seine Deutung des Geschehens zu akzentuieren. Es entstehen teils surrealistische Bilderwelten wie in "Die Ballade vom kleinen Schleppboot" des russisch-amerikanischen Nobelpreisträgers Joseph Brodsky. Der Hafen und bekannte Gebäude St. Petersburgs sind teils aus der Vogel-, teils aus der Froschperspektive zu erkennen. In einem Bild ist das kleine Schlepperboot zu sehen, wie es Frachtschiffe an die Anlegestellen zieht, dann scheint es über der Stadt zu schweben. Oder: Grubenarbeiter stehen gemeinsam mit einem Elefanten um einen Samowar, eine Verkäuferin mitten im Grünen mit Melonen, Harfe, Storch und einem Schreibtisch mit Computer - beides Szenen zu Gedichten Brodskys im "Arbeits-Abc" ("Rabochaya Azbuka). Doch nicht nur Gedichten - insbesondere jenen des russischen Avantgarde-Dichters Daniil Charms (1905-1942), dessen Werk erst nach der Perestroika gedruckt werden durfte -, Märchenstoffen und Klassikern der russischen Literatur wie Nikolaj Gogols Erzählung "Die Nase" widmet sich Oleynikov.

Regelmäßig arbeitet er mit Autorinnen und Autoren aktueller internationaler Kinderliteratur zusammen. Er hat Werke der amerikanischen Autorin Kate DiCamillo ("Despereaux - Von einem, der auszog das Fürchten zu verlernen") oder des Niederländers illustriert. Auf Deutsch sind zwei Erzählungen erschienen: "Das Nian-Monster" (2009) über die Entstehung der Neujahrsfeier in Asien und "Das kaiserliche Wettrennen" (2009) über die Entstehung der zwölf asiatischen Sternzeichen.

Und es bleibt eben nicht nur bei Stoffen für Kinder. Erwachsene und Jugendliche sehen die düsteren Illustrationen zu Lewis Carrolls "The Hunting of the Snark" (Die Jagd nach dem Snark) oder zu H. G. Wells Science Fiction Roman "War of the Worlds".

Warum Igor Oleynikov, der 2018 mit dem Hans-Christian- Andersen-Preis, dem wichtigsten Preis für Kinderbuchautoren und -illustratoren, ausgezeichnet wurde, in Deutschland wenig bekannt ist? "Es fehlt an Übersetzungen ins Deutsche. Wir hoffen, mit der Ausstellung, den Workshops und Führungen diesen außergewöhnlichen Künstler bekannter zu machen", sagt Kuratorin Katja Wiebe.

DK

Bis 8. März 2022, Mo-Do 10-16 Uhr, Fr 10-14 Uhr, Wochenende 14 bis 17 Uhr in Schloss Blutenburg, 81247 München. Anmeldung für Workshops von Schulklassen unter Telefon (089) 8912110, E-Mail fuehrungen@ijb.de

Barbara Fröhlich