Garching - Zur Feier des Tages kam eine "Atom-Mahlzeit" auf den Tisch: Nach "Vorfluterbrühe mit Kerneinlage" (Leberknödelsuppe) gab's "Uranstäbe" (Weißwürste), die mit "radioaktivem Kühlwasser" (Bier) heruntergespült wurden.
Und zum Dessert servierte man den 200 Ehrengästen um Ministerpräsident Wilhelm Hoegner "Garchinger Gammadunst" - vulgo: Käse.
Anlass für dieses strahlende Menü im Januar 1957 war das Richtfest des Forschungsreaktors München (FRM), der später nur Atom-Ei genannt wurde - wegen seiner Aluminiumkuppel. Das markante Gebäude beheimatete den ersten Forschungsreaktor in Deutschland, der im Vorort Garching auf der grünen Wiese gebaut wurde. Die aus heutiger Sicht eigenartige Namensgebung beim Festessen zeugt davon, dass die Einstellung zur Kernenergie damals eine andere war. In Zeiten von Fukushima und Atomausstieg würde man heute wohl auch in Garching nicht mehr mit "radioaktivem Kühlwasser" anstoßen. Wobei: Nach Feiern ist beim Forschungsreaktor München II (FRM II) zurzeit ohnehin niemand zumute. Denn der 2004 in Betrieb gegangene Nachfolger des Atom-Eis sieht sich heftiger Kritik ausgesetzt.
Jüngster Anlass ist ein Mitte Mai publik gewordener Zwischenfall, bei dem radioaktives C-14 austrat. Wegen eines "Bedienfehlers", so eine Sprecherin des FRM II, gelangte bei Wartungsarbeiten mehr Radioaktivität in die Luft als erlaubt. Der in der Betriebsgenehmigung festgelegte Jahresgrenzwert von C-14 sei um 15 Prozent überschritten worden, sagt die Sprecherin. Für Menschen und Umwelt habe aber zu keinem Zeitpunkt Gefahr bestanden.
Die Kritiker des Reaktors konnte dies nicht besänftigen. "Es drängt sich der Verdacht auf, dass wir es mit einem wiederholten systembedingten Fehler beim Betrieb und der Wartung des Atommeilers zu tun haben", klagte Ludwig Hartmann, Grünen-Fraktionschef im Landtag. "Wir fordern deshalb erstens Aufklärung und zweitens bis auf Weiteres ein Betriebsverbot für den Forschungsreaktor. " Aktuell steht die Neutronenquelle in Garching ohnehin seit 17. März still - wegen der Corona-Pandemie. Über ein Wiederanfahren muss nun das Umweltministerium entscheiden.
Stattet man dem FRM II heute einen Besuch ab, dann fährt man längst nicht mehr über grüne Wiesen. Vielmehr stehen der Reaktor und sein Vorgänger, das Atom-Ei, inmitten von zig Instituten, Forschungs- und Universitätsgebäuden - in einem der größten Wissenschaftszentren in Deutschland. Neben mehreren Fakultäten der Technischen Universität München (TUM) sitzen auf dem Gelände ein Fraunhofer- und vier Max-Planck-Institute, die Europäische Südsternwarte sowie etliche weitere Einrichtungen. Auch General Electric ist mit einem Forschungszentrum vertreten, demnächst sollen SAP und Siemens folgen. Mehr als 17000 Studenten und 7500 Beschäftigte verkehren täglich auf dem Gelände, dessen Keimzelle dereinst das Atom-Ei war.
Sein Nachfolger steht direkt neben der denkmalgeschützten Aluminiumkuppel. Der FRM II wird von der TUM betrieben, aber auch von Forschern aus aller Welt genutzt. Etwa 1200 Wissenschaftler - von Chemikern bis Medizinern - führen hier jedes Jahr Experimente mit Neutronen durch. Diese sind in der Lage, Materialien zerstörungsfrei zu durchdringen, und können daher Aufschluss über deren Aufbau und Eigenschaften geben. So untersuchen Forscher am FRM II etwa die Struktur von Proteinen, um Medikamente zu entwickeln. Oder sie blicken in die Fossilien von Dinosauriereiern, wie es kürzlich Paläontologen der Universität Bonn getan haben.
Erzeugt werden die Neutronen im FRM II mithilfe der Kernspaltung von Uran. In den Brennelementen des Reaktors besteht es zu 93 Prozent aus dem leicht spaltbaren Isotop Uran-235, weshalb man von hochangereichertem Uran (HEU) spricht. Das wiederum gilt als potenziell waffentauglich, und genau hier setzt die Kritik der Reaktorgegner an. Es sei ein "Skandal", findet etwa die Grünen-Bundestagsabgeordnete Sylvia Kotting-Uhl, dass der FRM II "weiterhin mit atomwaffenfähigem Material betrieben wird". Eigentlich sollte der Reaktor längst auf niedriger angereichertes Uran umgestellt sein. 2003 hieß es in seiner Genehmigung, dass eine Umrüstung bis 2010 erfolgt - später wurde daraus 2018. Doch weil die Entwicklung eines neuen Brennstoffs länger dauert als gedacht, setzt man in Garching bis heute auf HEU, wogegen der Bund Naturschutz in Bayern nun juristisch vorgeht. Er hat Anfang Juni eine Klage gegen den "illegalen Weiterbetrieb" des FRM II eingereicht und beruft sich dabei auf ein Gutachten, wonach dessen Genehmigung ausgelaufen sei. Selbige nennt ein Sprecher des Umweltministeriums dagegen "bestandskräftig und rechtsgültig". Und er betont: "Der Forschungsreaktor erfüllt die hohen atom- und umweltrechtlichen Sicherheitsanforderungen. "
Unabhängig von der Klage könnte dem FRM II bald eine erneute Zwangspause drohen - wegen eines Engpasses im Abklingbecken. Dort sind aktuell 47 der 50 Plätze besetzt. Bedeutet: Nur drei Brennelemente, von denen jedes 60 Tage lang im Einsatz ist, können noch gelagert werden. Um neuen Platz zu schaffen, sollen ausgebrannte Brennelemente ins Zwischenlager Ahaus gebracht werden. Aktuell laufe das Genehmigungsverfahren, berichtet die FRM-II-Sprecherin. Wann die ersten Castortransporte durch Garching rollen werden, lasse sich indes noch nicht sagen. Atomgegner im westfälischen Ahaus und in Garching haben jedoch schon jetzt Proteste angekündigt.
DK
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