"Er war politisch erschreckend naiv"

Der Wiener Historiker Oliver Rathkolb hat das Leben Carl Orffs in der NS-Zeit untersucht

24.06.2020 | Stand 02.12.2020, 11:06 Uhr
  −Foto: Matthias Cremer

Wien - Von der breiten Wahrnehmung unbeachtet, gab es Mitte der 90er-Jahre einen heftigen Eklat um Carl Orff (1895-1982).

Der angesehene amerikanische Musikwissenschaftler Michael H. Kater hatte veröffentlicht, dass Orff sich nach dem Krieg als Widerstandskämpfer und Mitglied der "Weißen Rose" dargestellt habe. Orff war schon zuvor ambivalent eingeordnet worden, als junges und erfolgreiches Gesicht im Musikleben des sogenannten Dritten Reiches. Er war einerseits für einen Teil der Musik der Olympischen Spiele und für Ersatzmusik des "jüdischen" "Sommernachtstraums" von Felix Mendelssohn-Bartholdy angefragt worden und stand auf der Liste der im Krieg unabkömmlichen Künstler, genannt die "Gottbegnadeten-Liste". Andererseits war er kein Parteimitglied, galt als politisch eher links und war befreundet mit Kurt Huber, einem der Gründer der Widerstandsgruppe "Weiße Rose". 75 Jahre nach dem Ende der deutschen Diktatur und 125 Jahre nach Orffs Geburt steht eine umfassende Biografie des Komponisten der "Carmina Burana" ebenso aus wie eine Monografie zu den Jahren der NS-Zeit. Wir haben dem renommierten Wiener Zeitgeschichtler Oliver Rathkolb, dessen Buch schon lange angekündigt ist, gesprochen.

Herr Rathkolb, Sie stehen kurz vor der Veröffentlichung eines Buches über Carl Orff - was können Sie uns schon verraten?
Oliver Rathkolb: Aus der Diskussion der 1990er-Jahre heraus habe ich mir alle Berührungspunkte um Carl Orff in der NS Zeit genau angesehen und versucht, als erster eigentlich, auch die veröffentlichte Meinung zu seinen Aufführungen in jener Zeit anzusehen. Und zwar nicht nur zu "Carmina Burana". Man unterschätzt trotz der totalitären Pressezensur, welche Informationen in den "Musikbetrachtungen" doch enthaltet sein konnten. Ich habe aber auch Orffs Nachlass und die Sammlung des Verlegers Schott sowie zahlreiche Archive und Bibliotheken in Deutschland, Österreich und den USA durchforstet.

Und, war Orff ein Gewinner der Nazizeit?
Rathkolb: Er hat einen internen Preis des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda und zwei Kompositionsaufträge in Frankfurt und an der Wiener Staatsoper bekommen. Aber wenn ich mir mal kritisch anschaue, wo er mit all dem 1945 gelandet war, war er zwar erfolgreicher als vor 1933, aber nicht unter den Top Ten in den Aufführungsstatistiken. Er hat aber nicht nur überlebt, er hat intensiv komponiert. Er war aber nie auch nur im Ansatz antisemitisch. Auf der anderen Seite war er politisch erschreckend naiv.

Wie zeigt sich das?
Rathkolb: Dass es beispielsweise ein politisches Signal war, Mendelssohns "Sommernachtstraum" neu zu komponieren, hat er nie verstanden - auch nicht nach 1945. Da hat er alle Warnungen, auch des Schott-Verlages, in den Wind geschlagen und ist den Nationalsozialisten in die Falle gegangen, und dann haben sie eigentlich diese Komposition ignoriert. Aber mich hat auch überrascht, wie wenig Niederschlag diese, seine Musik im "Dritten Reich" - verglichen mit seinem Freund und Nachbar Werner Egk - letztlich gefunden hat. Und immer wieder gab es negative Kritik bei Aufführungen - so beispielsweise auch in Mailand oder in Wien, da seine Musik verdächtig atonal klang, obwohl er nicht der Schönberg-Schule angehörte.

Wie kam dann das Gerücht überhaupt in die Welt?
Rathkolb: Michael Kater ist ein wichtiger Publizist zur Geschichte des Nationalsozialismus, aber wie jeder erfolgreicher Autor hat er diese Sehnsucht nach dem "smoking gun". In seinem Zeitzeugengespräch mit einem ehemaligen amerikanischen Schüler Orffs und Kulturoffiziers nach 1945 viele Jahrzehnte nach dem Geschehen hat sich diese Behauptung ergeben, Orff hätte sich als Widerstandskämpfer in der Gruppe "Weiße Rose" ausgegeben. Das findet sich aber in den dokumentierten Verhören nicht einmal mit einem Halbsatz! Interessanterweise passt Orff dagegen exakt auf das Modell des "passiven Antinazis". Dabei wäre er schon allein durch seine Beschäftigung mit dem Volkslied sehr nahe an der Ideologie dran gewesen. Nach der Hinrichtung seines Freundes und Gesprächspartners Kurt Huber reagierte Orff übrigens sehr ängstlich, er tauchte dann auch eine Weile in einer Privatklinik ab.

Orff war nach der NS-Rassenideologie Vierteljude, oder? War das dem Regime bekannt?
Rathkolb: Das ist eines der Verdienste von Michael Kater, da er den Ahnenpass entdeckt hat. Orff hätte also gar nicht um NSDAP-Mitgliedschaft ansuchen können. Aber es hat niemand gewusst, damals. Ich habe jedenfalls nichts gefunden, es war wohl nur in der Familienerinnerung bekannt. Ich wundere mich, warum Orff nach dem Krieg in den US-Entnazifizierungsverfahren diese Karte nicht gezogen hat. Er wäre wohl sofort "reingewaschen" worden. Entweder verdrängte er es oder er hatte andere Gründe, es nicht zu erwähnen.

Anders als etwa Richard Strauss hatte Orff noch ein langes künstlerisches Wirken nach der NS-Zeit und hatte Zeit, sich mit Abstand zu äußern.
Rathkolb: Er hat sich aber total zurückgehalten, ich habe eine Stelle gefunden, bei der er sich auf Kurt Hubers Tod bezieht und seine Angst. Aber ansonsten ist er nicht untypisch für die deutsche und österreichische Nachkriegsgeschichte: Er hat den Deckel drauf gelassen, ja er verhindert brachial, dass das Thema überhaupt aufkocht, in seiner Diskussion mit Fred K. Prieberg. Damit macht er erst möglich, dass ihn posthum die Diskussion dann so ereilt hat. Er verdrängte auch hier.

Wann wird Ihr Buch erscheinen?
Rathkolb: Es sind zirka 230 Seiten plus Anhang geworden, und es hat schon das erste Lektorat hinter sich, jetzt muss es noch Corona besiegen?, aber es wird veröffentlicht werden! Ich habe so lange gebraucht, weil ich immer noch gehofft habe, was Tolles zu finden in neuen Beständen. Und dann kamen eine neue Dissertation in Wien und eine in den USA heraus, und die wollte ich als Korrektiv abwarten. Es war aber nicht schlecht, abzuwarten, manche Analysen sind dadurch differenzierter geworden.

DK


Das Gespräch führte Sabine Busch-Frank. Foto: Cremer, Uni Wien.

ZUR PERSON
Oliver Rathkolb, 1955 in Wien geboren, ist Historiker mit dem Schwerpunkt europäische Geschichte im 20. Jahrhundert sowie österreichische und internationale Zeit- und Gegenwartsgeschichte, Professor am und Vorstand des Instituts für Zeitgeschichte an der Universität Wien.