Hilpoltstein
Entdeckungsreise in die eigene Vergangenheit

14.10.2019 | Stand 23.09.2023, 8:58 Uhr
Eine fremde Heimat, die trotzdem Heimatgefühle weckt: Horst und Inge Stöhr auf dem Marktplatz von Saaz. Der 78-jährige Hilpoltsteiner hat in dieser Stadt die ersten vier Jahre seines Lebens verbracht, aber keine Erinnerungen daran. −Foto: Münch

Einen ganz besonderen Reisegast hatten die Bürgermeister und Kreistagsmitglieder des Landkreises Roth bei ihrer Fahrt in der vergangenen Woche nach Tschechien dabei: Denn für Horst Stöhr wurde der zweitägige Ausflug in die böhmische Hopfenstadt Saaz zu einem emotionalen Abenteuer auf den Spuren der eigenen Familiengeschichte. Der 78-jährige Hilpoltsteiner kam jetzt zum ersten Mal überhaupt in seine Geburtsstadt zurück, aus der er als Vierjähriger mit seiner Familie vertrieben worden war.

"Ich bin ein bisschen aufgeregt", sagt Horst Stöhr, als der Bus an diesem sonnigen Montagmorgen über die tschechische Grenze in Richtung Karlsbad rollt. "Ich weiß ja überhaupt nicht, was mich erwartet." Gemeinsam mit seiner Frau Inge sitzt er in einer der vorderen Reihen und hält ein Blatt Papier in der Hand, das die Mitarbeiterinnen von Landrat Herbert Eckstein an alle Ausflügler verteilt haben. Es ist ein Straßenplan der Innenstadt von Saaz mit vier dicken roten Punkten. Markiert sind die beiden Hotels, in denen die Bürgermeister, Kreistagsmitglieder und Landratsamtsmitarbeiter untergebracht sind. Dazu die Brauerei und das Hopfenmuseum, die aber erst am zweiten Tag besichtigt werden.

Der erste Tag ist für einen ausführlichen Rundgang durch Saaz reserviert. Und am Ende dieses Spaziergangs steht plötzlich eine Notiz auf Stöhrs Stadtplan. Der Stadtführer markierte ihm die Straße, wo der 78-jährige Hilpoltsteiner vermutlich die ersten vier Jahre seines Lebens verbrachte. "Am Mühlbach" - das ist einer der wenigen konkreten Hinweise, den Horst Stöhr für seine Entdeckungsreise in die eigene Vergangenheit dabei hatte. Und nun - mehr als 70 Jahre nach der Vertreibung aus Böhmen - liegt dieser Ort, seine erste Heimat, nur ein paar hundert Meter entfernt.

Was damals, in der Zeit nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, mit seiner Familie hier in Saaz passierte, daran hat Horst Stöhr "überhaupt keine Erinnerung", wie er sagt. Er kennt die Geschichte nur aus den Erzählungen seiner Mutter. Und es ist eine grausame Geschichte. Der Vater hatte eben erst ein Haus gebaut, als er verschleppt und wohl hingerichtet wurde. "Nichts Genaues weiß man nicht", sagt Horst Stöhr über das Schicksal seines Vaters, der als Dreher in einer Fabrik arbeitete, die wohl Waffen für die deutsche Armee herstellte.

Die Geschichtsforscher sind sich dagegen sicher, was im Frühsommer 1945 in Saaz und dem benachbarten Ort Postelberg passierte. Innerhalb weniger Tage wurden dort etwa 2000 Sudetendeutsche umgebracht. In den bislang gefundenen Massengräbern lagen die Überreste von 763 Menschen - erschossen oder erschlagen. Es war das schlimmste einer ganzen Reihe von Nachkriegsmassakern, die kurz nach Kriegsende an den Sudetendeutschen verübt wurden. Tschechische Revolutionsgarden, Soldaten und Polizisten nahmen Rache für die Demütigungen durch die deutsche Besetzung.

Mit dem damals vierjährigen Horst flüchteten die Mutter und die Großmutter aus Saaz. "Wir kamen von einem Lager ins andere", sagt Stöhr. "Wie genau unser Weg war, das weiß der Kuckuck." Während viele andere Heimatvertriebene damals in dem großen Aufnahmelager im Schwabacher Ortsteil Vogelherd landeten, kamen die Stöhrs in die damalige Kreisstadt Hilpoltstein. Von dort wurden sie zunächst in Mantlach bei Titting untergebracht, bevor sie eine Bleibe in Ruppmannsburg fanden. "Dort sind wir wirklich gut aufgenommen worden", sagt Klaus Stöhr. "Das war eine Familie mit fünf Kindern - und ich war da quasi das sechste."

Die dritte Station der aus Saaz vertriebenen Familie war im Landkreis Hilpoltstein dann eine Wohnung in Thalmässing. Dort traf Klaus Stöhr schon auf seine spätere Ehefrau Inge. "Wir waren Nachbarskinder in der Badstraße", sagt er und nimmt die Hand seiner Frau, die selbst aus dem Sudetenland vertrieben worden ist. Nach der Lehre in Thalmässing zum Landmaschinenschlosser trat Horst Stöhr dann eine Stelle in Nürnberg an. Und nach der Geburt des Sohnes Klaus bezog die Familie im Herbst 1967 schließlich ein Haus in Hilpoltstein, das zweifellos die Heimat des gebürtigen Saazers Horst Stöhr geworden ist. Seit mehr als 20 Jahren ist er der Vorsitzende des Obst- und Gartenbauvereins. Für diesen Einsatz bekam er vor zwei Jahren auch von Landrat Herbert Eckstein das Ehrenzeichen des bayerischen Ministerpräsidenten überreicht.

Genau dieser Ehrungsabend brachte Horst Stöhr jetzt zum ersten Mal überhaupt zurück in seine Geburtsstadt. "Meine Mutter wollte ja bis zu ihrem Tod nicht zurück nach Saaz und ich selber hatte auch kein Verlangen danach." Auch weil Horst Stöhr kein einziges Wort Tschechisch spricht. Doch Landrat Eckstein merkte es sich, dass er in Stöhrs Vita nicht Hilpoltstein, sondern Saaz als Geburtsort entdeckte. "Da musst du mit, wenn wir mal wieder hinfahren", sagte also Eckstein an jenem Ehrungsabend. Denn schon im Jahr 1995 führte eine Kreistagsfahrt in die Region Saaz, mit der sich der Landkreis Roth besonders verbunden fühlt. Wegen der vielen Heimatvertriebenen, die vor allem in Georgensgmünd und Spalt sesshaft wurden, hatte schon im Jahr 1955 der frühere Landkreis Schwabach eine Patenschaft für den Heimatkreis Saaz übernommen. Diese Patenschaft führte der Landkreis Roth nach der Gebietsreform fort. 1987 wurde im Landratsamt eine Saazer Heimatstube eingerichtet, die sich seit 1999 im Schlösschen in Georgensgmünd befindet und von Hermann Würdinger junior betreut wird.

Dessen Vater erlebte bei jener Kreistagsfahrt im Jahr 1995 nur schwer erträgliche Momente in Saaz, wie Eckstein erzählt. Denn als er in seinem früheren Haus ankam, musste Würdinger mitansehen, wie die Holztreppe gerade herausgerissen und zertrümmert wurde, weil die bettelarmen Bewohner nichts mehr zu heizen hatten. Solche schockierenden Szenen blieben Horst Stöhr jedoch erspart. Allein deshalb, weil das ehemalige Haus seiner Familie unauffindbar blieb. "Von alten Fotos weiß ich zwar, dass es damals ein freistehendes Haus war", sagt Stöhr in der Straße, zu der ihn der Stadtführer vor dem Abendessen extra fährt. Aber jetzt stehen hier links und rechts nur Häuserreihen.

"Früher ist das ist bestimmt ein schöner Fleck gewesen", sagt Horst Stöhr sichtlich ergriffen, als er in der Dämmerung mit seiner Frau Inge durch die Straße spaziert, wo er wohl die ersten Jahre seines Lebens verbrachte. "Ich hätte nicht gedacht, dass einem in diesem Moment so viel durch den Kopf geht. Aber auch wenn ich mich an nichts von damals erinnern kann, weckt es irgendwie doch ein bisschen Heimatgefühl. Alleine wenn man sich vorstellt, dass das hier die Wege sind, auf denen mich meine Mutter damals mit dem Kinderwagen spazieren gefahren hat. Und wenn ich jetzt hier so stehe, dann weiß ich: Ich hätte es wahrscheinlich eines Tages bereut, nicht mal hierher zurück gekommen zu sein."
 

Jochen Münch