Pfaffenhofen (PK) „Ich tat einen Schritt aus der Stadt hinaus in die verschneite Landschaft, in Richtung Norden, wo das Land übergeht ins Meer, wo an der Küste, nah an einen breiten Strand gebaut, das Haus meiner Eltern steht, in dem ich aufgewachsen bin und auf dessen Klingel ich meinen Finger legen würde, ohne Vorankündigung.“
Roman Ehrlichs Erstlingswerk „Das kalte Jahr“ erzählt von einem Menschen – nur der Klappentext weist ausdrücklich darauf hin, dass es sich um einen jungen Mann handelt – der im Winter zu Fuß seine Stadt verlässt, um zu seinem Elternhaus am Meer zu wandern. Jede Etappe der Reise, jede Situation ist dabei so gekonnt beschrieben, dass man beim Lesen unwillkürlich in die jeweils vermittelte Stimmung zu verfallen neigt. Da sich diese stetig ändert, hat man zuweilen selbst das Gefühl, voranzukommen auf der Reise durch die Geschichte. Durch die Ich-Perspektive verstärkt der Autor diesen Effekt noch – nur um den Leser dann grob auffahren zu lassen, denn als der Reisende endlich frierend und erschöpft sein Ziel erreicht, ist da nichts. Keine Eltern, kein wohlig trautes Heim, kein Entfliehen aus der unpersönlichen Distanziertheit in die Arme der Liebsten. Lediglich ein schweigsamer fremder Junge, der den Angekommenen als Mitbewohner akzeptiert, an den nur mit Geschichten heranzukommen ist und der bis zum Schluss rätselhaft bleibt. Um das Haus herum ein in jedem Sinne erstarrtes Dorf, bestehend aus Stationen, zwischen denen der Protagonist herumhastet wie ein moderner Woyzeck, nur dass nicht Stress und Intrige seine ständigen Begleiter sind, sondern Kälte und Einsamkeit. Manch einer mag sich auch an ein altes Textabenteuer-Spiel erinnert fühlen – jeder Ort scheint seine Geschichte zu haben, die man kurz an einer Stelle zu fassen bekommt. So ist es auch bei den historischen Abschnitten sowie den Fernsehprogrammen, durch die der Erzähler zappt. Über allem liegen jedoch Einsamkeit, Taubheit und Sinnlosigkeit. Daraus entstehen depressive Stimmungen, in denen sich die an sich schon unwirkliche Realität mit Erinnerungen, Trugbildern und Geschichten vermischt. Die Bilder, die hin und wieder zwischen den Handlungsstücken eingefügt sind, machen das geheimnisvolle Klima des Werks komplett und sind ein klares Zeichen, dass Ehrlich nicht an die Lehrbuchform des Erzählens gebunden ist, die sich am Anfang des Buchs noch deutlich zeigt. Bis auf manche übermäßig verkünstelte Satzkonstruktionen und ein paar schier endlose Aufzählungen schafft er es, alle Faktoren auf seine Geschichte abzustimmen. Fazit: ein nachdenkliches und anspruchsvolles Buch mit Depressionsfaktor.
Rezension von Peter Maier
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