Ingolstadt
Eindringliches Plädoyer für Solidarität

Premiere in der Werkstatt: Hannah Biedermann macht aus der "Roten Zora" ein Theaterereignis

05.03.2017 | Stand 02.12.2020, 18:33 Uhr

Zeit und Ort verschwimmen: Szene mit Benjamin Kneser, Michael Amelung, Benjamin Dami und Paula Gendrisch (von links). - Foto: Olah

Ingolstadt (DK) "Us-ko-ken, Us-ko-ken", skandiert das Publikum am Ende. Angeheizt von Benjamin Dami und seinen drei Ensemblekollegen, die die Geschichte der "Roten Zora" temperamentvoll, mit unglaublicher Spiellust und in überbordenden Bildern in der Werkstatt des Stadttheaters Ingolstadt lebendig werden ließen.

Hannah Biedermann hat aus Kurt Helds Jugendbuch von 1941, das längst zum Welterfolg geriet, eine so kluge wie radikal gekürzte Theaterfassung erstellt, in der Zeit und Ort verschwimmen: Aus dem kroatischen Senj wird eine namenlose Stadt wie jede andere. Irgendwo. Irgendwann. Hier leben Kinder am Rande der Gesellschaft. Obdachlose, entwurzelte Kinder. Ohne Eltern. Ohne Heimat. Sie bilden eine Notgemeinschaft, haben sich zur berüchtigten Bande der Uskoken zusammengeschlossen, deren Anführerin die Rote Zora ist. Ihre Zuflucht ist eine Burgruine. Sie stehlen, um zu überleben. Sie lieben ihre Freiheit. Sie üben die Rache der Gerechten. Sie kämpfen gegen die Mächtigen - zusammen mit anderen, die sich nicht kleinkriegen lassen, etwa dem alten Fischer Gorian. Und am Ende? Ja, das ist der Clou in Hannah Biedermanns Version: Während in Kurt Helds literarischer Vorlage die Kinder den Schaden, den sie angerichtet haben, wiedergutmachen, so der Strafe entkommen und jedes einen Platz in der Gesellschaft findet, der ihm zusagt, bleibt hier alles offen. Blackout während der Gerichtsverhandlung. Wie könnte, sollte, müsste es weitergehen? Heute? Bei uns? Eine Aufforderung zum Weiterdenken.

Und zum Denken gibt es hier jede Menge. Denn das Stück erzählt nicht nur davon, wie eine Gesellschaft funktioniert, welche Verantwortung sie gegenüber ihren Mitgliedern hat, sondern auch von den Mechanismen des Marktes, von der Macht der Mächtigen, von Manipulation und Gruppendynamik. Und es erzählt von Haltung, Mut, Rebellion. In erster Linie aber ist "Die Rote Zora" eine Abenteuergeschichte über ein unerschrockenes Mädchen, das mit seiner Bande ein aufregendes Leben fernab von Schule, Tennisfreizeit und Chichi führt. Also perfekt für ein Publikum ab zehn Jahren.

Hannah Biedermann macht daraus ein Theaterereignis. Gerade mal vier Schauspieler hat sie zur Verfügung, die zwischen Erzähl- und Dialogpassagen in unzählige Rollen schlüpfen, Hühner fangen, aus Gefängnissen entwischen, Streit anzetteln, sich vielleicht verlieben, Geräusche fabrizieren, die Bühne umbauen. Und was für eine Bühne! Mascha Mihoa Bischoff hat eine Art Installation aus geschätzt 300 Getränkekisten in die Werkstatt gebaut, die zu Mauern gestapelt werden, den Markt bilden, einen Ziegenstall, die Uskokenburg, als Lagerfeuer wie als Fangnetz und sogar als Rhythmusinstrument genutzt werden. Was für ein Kraftakt für Paula Gendrisch, Michael Amelung, Benjamin Kneser und Benjamin Dami! Hinreißend ist das, wie sie die rasend schnellen Umzüge bewältigen (trotz der Tücken der Kostüme und Perücken). Beeindruckend das Maskenspiel (die Obrigkeiten der Stadt werden durch goldene Masken mit harten Zügen dargestellt, die feigen Gymnasiasten-Söhnchen mit weißen, anonymen Pappgesichtern). Actionreich die wilde Tragerl-Hatz. Herzergreifend die Unbehaustheit der Kinder. Dazu die Soundmaschine, das chorische Sprechen, die anmutig choreografierten Szenen zu Wasser und zu Land. Das ist oft knapp skizziert, aber mit Witz und Fantasie gemacht. Sehr spielerisch. Mit kecker Leichtigkeit und flirrender Fabulierlust. Auch mit großer Musikalität (Matthias Meyer). Hannah Biedermanns Inszenierung ist kindgerecht, aber nie oberflächlich. Nach gut 70 Minuten gibt es dafür großen Applaus.

"Die Rote Zora" ist ein leidenschaftliches Plädoyer gegen Ausgrenzung und für Solidarität. Und unbedingt sehenswert!

Neben zahlreichen Schülervorstellungen sind die nächsten Termine im freien Verkauf am 1. und am 16. April jeweils um 19 Uhr. Kartentelefon (08 41) 30 54 72 00.