Konzert
Eindringliche Texte, kraftvolle Musik

Dreiviertelblut entfacht ein Feuerwerk der Emotionen im Kulturzentrum neun Ingolstadt

22.11.2019 | Stand 23.09.2023, 9:35 Uhr
Energie pur, voller Orchesterklang, perfektes Zusammenspiel: Mit ihrem Auftritt euphorisierte die Band Dreiviertelblut das Publikum in Ingolstadt. −Foto: Weinretter

Ingolstadt (DK) Der Sound steigt leise auf wie Nebelschwaden. Ohne das Publikum im voll besetzten Saal des Kulturzentrums neun anzusehen, haben die Musiker von Dreiviertelblut ihre Plätze eingenommen, beginnen zu spielen. Sänger Sebastian Horn kommt, geht wieder, holt sein Blatt Papier, auf dem die Titelabfolge steht. Alles ähnlich unspektakulär wie bei den drei vorangegangenen Auftritten der Band in Ingolstadt.

Dann legen sie los - knallige Lautstärke, kraftvoll, treibend klingen Benjamin Schäfers Tuba, Dominik Göbls Trompete, Florian Riedls Klarinette, Luke Cyrus Götzes E-Gitarre, Gerd Baumanns Gitarre. Sebastian Horn verwandelt sich vom "Irgendwie-auf-der-Bühne-Stehenden" in eine einzige tiefe, raumfüllende, Stimme: "Es redt si scho leicht, wanns'd sogst: Der ist verruckt! Aber was wuist du macha, wann's Lem di verschluckt?", singt er den Song "Die Wahrheit". Singt, schreit, schnauft, röchelt, schüttelt sich, stampft, dreht das Innere nach außen von einem, der nicht mehr aus dem Zimmer gehen will, weil sich seine die Welt verschoben hat. Warum? Das bleibt offen in diesem Song aus dem Album "Diskothek Maria Elend".

Letztlich ist es nicht wichtig. Seit ihren "Finsterliedern" hat sich die Band in Zwischenräume begeben, hat sie den Tod ins Leben geholt, Grenzen und Missstände klar benannt und gegen sie angesungen - "Ich wach auf und I schau naus. Draußen gehd de Welt in Flamma auf. Stacheldraht, des ko's ned sei. I mog koa Mauer vor da Tür. I hob ma denkt, de Zeiten san vorbei." Mit diesen Textzeilen erlangte das "Mia san ned nur mia" Kultstatus bei all jenen in Bayern, die die Menschen empfingen und versorgten, die vor Krieg und Elend nach Deutschland geflüchtet waren.

In seinen Liedtexten nimmt Sebastian Horn auf, was nicht stromlinienförmig im Alltag funktioniert, holt das Danebenstehende in die Mitte und beschreibt ebenso kraftvoll und voller Lust das Leben, die Sehnsucht nach Liebe, Geborgenheit, Nähe und Wärme. Ganz oft gepaart mit Witz und einem Augenzwinkern. "I glab, as Lem ist zum Lacha", singt er ja auch etwas später während dieses fast dreistündigen Konzerts in der Neun. "Drum lach I, bis I woana muass" gehen die Textzeilen des Songs "Abgesang" denn auch weiter.

Woher das kommt, diese Gleichzeitigkeit von Lachen und Weinen, Tod, Krankheit und Leben, unbändige Freude? Aus der Erfahrung des "Odlgruamschwimmer", der Sebastian Horn als Dreijähriger kurz war, als er bei seinen kindlichen Erkundungstouren in die Jauchgrube gefallen war und von einer nicht ganz Siebenjährigen herausgezogen wurde. Das Lied sei ein Dank an alle Lebensretter dieser Welt, erzählt Horn in der Anmoderation. Gleich danach gibt es für alle Hobbygärtner eine schwungvolle Ode an die "Schupfmarie" (Hanf) und gleich noch zum Mitsingen und Mittanzen mit "1,2, 3 ..." jene an die gutbayerische Droge, den Hopfen, besser: das Bier. Da stehen die ersten schon im Mittelgang der Stuhlreihen und feiern mit dem auf der Bühne tanzenden und singenden Horn, der dabei die Musiker anflirtet.

Die antworten mit ihren Instrumenten - jeder von ihnen hat ja mehrere, wechselt sie je nach Stück, Benjamin Schäfer und Dominik Göbl singen ebenso wie Gerd Baumann auch immer wieder als Backgroundstimme oder -chor für Horn -, haben glanzvolle Soli, die als Widerpart oder Ergänzung Höhepunkte in der dichten und raffiniert choreografierten Abfolge der Stücke bilden.

Auf das "Prost aufs Leben" im "1,2,3 ...", bei dem Bierzeltatmosphäre aufkommen könnte, folgt das Antikriegslied "Schlaf mei Bua" nach Rimbaud. Eines von weiteren und je ganz unterschiedlichen Antikriegsliedern ist das an diesem Abend, der neben den Songinhalten und den unterhaltsamen Anmoderationen mit unglaublich guter Musik punktet.

Mit hineingenommen in den Bühnenauftritt hat Dreiviertelblut die neuen Arrangements der bisherigen Lieder durch die Studierenden der Hochschule für Musik und Theater München von Gerd Baumann in der Zusammenarbeit mit den Münchner Symphonikern - die Aufnahme ihres Live-Auftritts gibt es als Platte und CD. Polka, 4/4- und 3/4-Takt, Reggae, Ska und Rock, bairische Chansontöne ("Wann I dann") sind noch eindringlicher, klang- und effektvoller, reißen das Publikum mit. Zwischenapplaus, Singen, rhythmisches Klatschen inbegriffen.

Nach der Pause steigert sich das. Energie pur schwappt von der Bühne hinein in den Saal. Drei Zugaben werden gefordert: Sebastian Horn erzählt für all diejenigen, die es nicht schon ahnten, über den Einfluss von The Cure auf ihn. "The Forest" ist aber nicht nur eine bairische "Der Wald"-Version, sondern ein eigenes Statement, bei dem endlich auch Benjamin Schäfter mit einem Solo zeigen kann, welch glanzvolles wichtiges Instrument der Kontrabass ist. Der volle Saal tanzt und singt kurz darauf völlig euphorisch "Deifedanz", bis Gerd Baumann mit zarten Gitarrenklängen den Song "Paradies" anstimmt und das aufgeheizte Publikum so beruhigt auf den Nachhauseweg entlässt. Erschöpft, beseelt, gestärkt.

Dreiviertelblut ist mehr als so etwas wie "Heimatsound" und sicher der Höhepunkt der diesjährigen Reihe "Dialektig".

Barbara Fröhlich