Ein fantastisches Stück

Marieluise Fleißers "Fegefeuer in Ingolstadt" in New York inszeniert - Starkes Interesse am Werk der Ingolstädterin im Ausland

19.06.2020 | Stand 23.09.2023, 12:25 Uhr
Mulitmedial kam "Fegefeuer in Ingolstadt" Anfang des Jahres in New York zur Aufführung. −Foto: Afsoon Pajoufar

Ingolstadt - Als Studio-Produktion wurde Marieluise Fleißers "Fegefeuer in Ingolstadt" vom 31. Januar bis 8. Februar am Marymount Manhattan College in New York in der Regie von Ashley Tata gezeigt.

Konzentriert auf die Beziehungen der Charaktere hatte Tata das Geschehen um eine Gruppe Gymnasiasten im Original in eine Vorstadt in den USA in den späten 1990er-Jahren verlegt und dabei die Beschreibung einer strengen, starren und strikt religiösen Gesellschaft betont. Damit der Brückenschlag des Textes ins Heute gelang, wurden Gothic Rock Musik bei den Szenenwechseln gespielt und Kamerasequenzen einiger Figuren in das Stück integriert. Die jungen Leute filmten sich gegenseitig,um sich zu kontrollieren, zu überprüfen und sich in Verlegenheit zu bringen.

So beschrieb es Ashley Tata in ihrem Brief an Klaus Gültig, Neffe Marieluise Fleißers und Verwalter ihres literarischen Nachlasses. Sie habe die Energie der Rechtsgerichteten ebenso aufzeigen wollen wie das Gewaltpotenzial religiöser Institutionen. Themen, die nicht nur die 20er-Jahren bewegten, sondern die aktuelle politische und gesellschaftliche Landschaft beherrschen. "Fegefeuer in Ingolstadt" (Uraufführung am 25. April 1926 auf der Jungen Bühne des Deutschen Theaters Berlins) zeige, was Angst und Frustration bei jungen Menschen anrichten können, so Tata. Die Übersetzung des Aufführungstextes für "Purgatory in Ingolstadt" in modernes Englisch stammt von Gitta Honegger, Professorin für Theater an der Arizona State University, die mit ihren Übertragungen der Werke Elfriede Jelineks (die die Fleißer als "bedeutendste deutschsprachige Schriftstellerin" des vergangenen Jahrhunderts bezeichnete), Thomas Bernhards, Peter Handkes, Peter Turrinis und Elias Canettis diese Autoren dem US-amerikanischen Publikum erschließt.

Ashley Tata war über eine Produktion von Brecht/Weills "Sieben Todsünden" an der Harvard University (Cambridge, Massachusetts) auf Fleißer aufmerksam geworden und suchte nach einer Möglichkeit, deren Stücke aufzuführen. Nun endlich "Fegefeuer in Ingolstadt", das sie ein "fantastisches Stück" nennt, dessen Autorin in den USA "leider nicht so bekannt" sei. Dies sei umso bedauerlicher, "da sie eine Reihe von deutschen Regisseuren beeinflusste, die einen starken Einfluss auf die experimentelle Theaterszene hier hatten". Sie fühle sich "auf einer Art Mission", dass Fleißer in den USA öfter aufgeführt werde.

Tatas Regiearbeit war die sechste Aufführung eines Fleißer-Werkes in den USA nach 1980 und 1990 von "Fegefeuer in Ingolstadt" in New York, der Dramatisierung der Ingolstädter Novelle "Ein Pfund Orangen" in Washington 1997 und des "Fegefeuer in Ingolstadt" im Jahr 2012 in Valencia/Kalifornien.

An Klaus Gültigs Liste mit mehr als 180 Aufführungen ist auffällig ist, dass "Fegefeuer in Ingolstadt" am häufigsten gezeigt wird, ganz gleich, ob im angelsächsischen Sprachraum, im deutschen oder frankophonen und anderen Sprachen. Die erste Übersetzung war demnach ins Italienische: 1974 für Aufführungen in Bologna und Siena.

"Ich zähle nur die Premieren", erläutert er, "nicht, wie oft ein Theaterstück oder ein Prosawerk aufgeführt wird". So erinnert der Germanist im Redaktionsgespräch daran, dass im Théâtre de Nîmes die "Pioniere in Ingolstadt" am 18. November 2011 Premiere feierte, das Ensemble ab 24. November mit 31 Vorstellungen in Frankreich auf Tournee war: von Cergy-Pontoise im Großraum Paris bis in den Süden nach Marseille, nach Westfrankreich mit Le Havre und zum Tourneeschluss am 3. April 2012 in Angoulème.

Normalerweise erfahre er im Nachhinein durch die Abrechnungen des Suhrkamp-Verlags und des Theaterverlags Desch für "Der starke Stamm", wann wo welche Premiere war. Da er aber versuche, sich alle Premieren selbst anzusehen, hat er sich angewöhnt, im Herbst bei den Verlagen vorab zu fragen. So reiste er 2017 ins kanadische Montreal, wo "Avantgarde" auf die Bühne kam.

Im Fall der New Yorker Aufführung war dies nicht möglich, erhielt er erst nach der Abrechnung des Suhrkamp-Verlages davon Kenntnis. Dennoch setzte er sich mit der Regisseurin in Verbindung, um nach der Aufführung und ihrem Interesse zu fragen, auch, um dem Fleißer-Archiv im Stadtmuseum Material zukommen zu lassen. So antwortete Regisseurin Ashley Tata mit dem zitierten Brief, der der Redaktion in deutscher Übersetzung vorlag.

Tatsächlich wächst das Interesse am Werk Marieluise Fleißers gerade im Ausland. Über den in Paris ansässigen Verlag l'Arche, hat Gültig erfahren, dass es auch Lesungen aus Fleißers erzählerischem Werk für literisch-interessierte Kreise in der französischen Hauptstadt gibt. Vor Kurzem erhielt er die Nachricht, dass ihr Werk auf Dänisch erschienen ist. Das Schauspiel "Der Tiefseefisch" (Uraufführung 1980 in Wien) sei ins Koreanische übersetzt, "Der starke Stamm" in Finnland in der Landessprache als Fernsehfilm gezeigt worden. Von allen Übersetzungen besitzt das Marieluise-Fleißer-Archiv mindestens ein Original. "Aus Schweden auch Programmhefte und Rezensionen", sagt Gültig. "Ich hoffe, dass wenigstens ein Teil der fremdsprachigen Ausgaben im neuen Fleißer-Museum gezeigt werden", sagt er. Schließlich sei das eine Bedingung gewesen, die Originale dem Archiv zu überlassen. Laut Homepage des Stadtmuseums soll das sanierte Geburtshaus der Dichterin ab 6. Oktober als Museum zugänglich sein.

DK

Barbara Fröhlich