Ingolstadt - Rechts ein Kreuz, links ein Kreuz, dazwischen ein langer Pfeil.
Martin Valdeig hat alles mit weißer Kreide auf den eisernen Vorhang skizziert. Hier steht er. Dort muss er hin. Ein simpler Plan. Seine Figur, Doktor Garin, ist in Eile. 17 Werst - umgerechnet etwa 18 Kilometer - sind es von Dolbeschino nach Dolgoje. Dort ist eine mysteriöse Epidemie ausgebrochen, die Menschen in Bestien verwandelt. Garin hat den Impfstoff dabei. Doch es gibt keine Pferde, die ihn und die "Vakzine" an diesem trüben Wintertag nach Dolgoje bringen könnten. Er heuert den Brotkutscher Krächz an, der die Fahrt, wenn auch widerwillig, für fünf Silberrubel wagen will - mit seinem von 50 Minipferden gezogenen Mobil. Doch ein Schneesturm zieht auf.
Immer wieder kommen die beiden im weißen Gestöber vom Weg ab. Es gibt einen Unfall. Man muss in der nahen Mühle Nachtquartier erbitten. Dann verhindern eine erotische Eskapade mit der drallen Müllerin, ein Drogentrip bei den Dopaminierern, ein Wolfsrudel und der Zusammenstoß mit einem toten Riesen die Weiterfahrt. Je länger die wilde Jagd dauert, desto deutlicher wird die Aussichtslosigkeit des Unterfangens. Dolgoje wird nie erreicht. Am Ende ist der Kutscher tot und der Doktor wird halb erfroren von eigentümlichen Chinesen neutralisiert und abtransportiert.
"Der Schneesturm" heißt der erstaunliche Roman von Vladimir Sorokin aus dem Jahr 2010, der in seinem altertümelnden Sprachgestus wie ein fantastisches Märchen anmutet, aber eine düstere Vision eines zukünftigen Russlands entwirft: technologisch hoch gerüstet, gesellschaftlich rückständig, mit einer riskanten Allianz aus Anarchie und Phlegma und einer äußerst fragilen globalen Klimastruktur. Oberspielleiterin Mareike Mikat hat aus dem komplexen 200-Seiten-Werk eine außergewöhnliche Spielfassung destilliert, die zwischen Erzähl- und Spielszenen changiert, mit bildersatter Märchenopulenz und verschwenderischer Klangfülle besticht und ein Ensemble in Bestform präsentiert. Die Premiere am Samstagabend im Großen Haus wurde frenetisch gefeiert.
Im Zentrum steht die eigentümliche Beziehung zwischen Garin und Krächz, ein Herr-Knecht-Verhältnis, das sich im Laufe der Fahrt verändert - bis zur physischen Vernichtung des Kutschers. Hier prallen nicht nur verschiedene soziale Schichten aufeinander, hier der bürokratische Intellektuelle, dort der ländliche Proletarier, es geht nicht nur um Verantwortung oder Machtverhältnisse, es geht auch um Lebensmodelle, funktionierende Ökosysteme und deren fahrlässige Zerstörung.
Martin Valdeig und Péter Polgár als Garin und Krächz sind ein wunderbares Duo. Mit einer großen Präsenz, viel Energie und einem federleichten Witz in ihren existenziellen Kämpfen. So heroisch der eine in seinem Rettungsauftrag, so zärtlich der andere im Umgang mit seiner Pferde-Herde. So euphorisierend die drogeninduzierte Nahtoderfahrung des einen, so anrührend die stets heiter gestimmte Desillusion des anderen. Die restlichen fünf Ensemblemitglieder springen behände von Rolle zu Rolle, sind Müllerin, Kasachin und Chinesin (Manuela Brugger) oder Dorfbewohnerin und Suchtaus (Linda Ghandour), Rotschimmel (Jan Beller), Lalelu (Richard Putzinger) und Dorfvorsteher (Olaf Danner), schlüpfen immer wieder in die Rolle des Erzählers und bilden alle zusammen den Schneesturm. Denn das ist das ungewöhnliche Konzept von Mareike Mikat: Sie schickt Garin mit Krächz auf Reisen - doch der wilde Schneesturm verhindert ein Ankommen. Also steckt sie das restliche Quintett mit Stör-Auftrag in winterlich Outfits aus Tracht und Haute Tech Couture (Kostüme: Anna Sörensen). Und das wird mit märchenhafter Raffinesse, kuriosem Schattenspiel (der Zwerg und die Riesin), wilden Farb-Rausch-Fantastereien und doppelter Frauenpower erledigt. Was für ein Spiel!
Der Clou aber ist, dass die Regisseurin das Stück als Live-Hörspiel inszeniert. Von Enik stammen die faszinierenden Sounds und Kompositionen für diesen "Schneesturm". Jeder knirschende Schritt im Schnee, jedes Kufenflitzen, alles Wehen und Wogen, Rappeln und Rumpeln, das Delirium und die stille Landschaft, jeder Seufzer in der frostigen Atmosphäre wird live von den Schauspielern auf der bis zur Brandmauer aufgerissenen Bühne (Simone Manthey) produziert. Mittels Glasharfe, Schlagzeug, Klavier und diverser Percussioninstrumente. Nick Caves gemeinsam angestimmtes "Fifteen Feet of Pure White Snow" ist da nur ein Highlight von vielen.
Alles, wirklich alles stimmt an dieser Inszenierung. Von der klugen Text- über die innovative Spielfassung, von der poetischen Bildsprache mit der spannenden Videoästhetik (von Wärmebildern der Erde bis zum galaktischen LSD-Trip) über die vielschichtigen Auseinandersetzung mit globalen Phänomenen bis hin zu den pfiffigen Bühnenlösungen mit pelzigen Sockentier-Pferdchen und der Begrüßung des Publikums mittels Hologrammradio. Und weil ja auch bei Sorokin eine Epidemie herrscht, baut Mareike Mikat die Corona-Sicherheitsvorschriften (Handschuhe, Mundschutz, Abstand) gleich offensiv in ihre Inszenierung mit ein.
Ein Schauspielfest. 105 Minuten mitreißende Unterhaltung. Zum Nach- und Weiterdenken.
DK
ZUM STÜCK
Theater:
Großes Haus Ingolstadt
Regie:
Mareike Mikat
Bühne:
Simone Manthey
Kostüme:
Anna Sörensen
Vorstellungen:
bis 29. Dezember
Kartentelefon:
(0841) 305 47 200
Anja Witzke
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