Schrobenhausen
Dramatische Verhältnisse

Im Schrobenhausener Land lebte zur Zeit der NS-Machtergreifung ein einziger Jude – der ins Konzentrationslager kam

08.11.2013 | Stand 02.12.2020, 23:27 Uhr

 

Schrobenhausen (SZ) Am heutigen Samstag jährt sich zum 75. Mal die Reichspogromnacht. Tausende von deutschen Juden standen nach dieser Nacht vom 9. November 1938 vor den Trümmern ihrer Existenz.

Synagogen und Geschäfte wurden zerstört, tausende von Juden wurden verhaftet und in Konzentrationslager eingeliefert, hunderte wurden ermordet oder starben an den Haftfolgen. Auch in der weiteren Region hatte diese Pogromnacht massive Auswirkungen auf das jüdische Leben. Doch während in Augsburg die Synagoge angezündet, jüdische Geschäfte geplündert, in Ingolstadt die Synagoge geschändet und Einrichtungsgegenstände öffentlich verbrannt wurden, passierte in Schrobenhausen und Umgebung wenig. Denn es gab hier keine jüdische Gemeinde. 1933, im Jahr der Machtergreifung Hitlers, lebte im Schrobenhausener Land nur ein einziger Jude.

Stadtarchivar Max Direktor weiß, warum: Schrobenhausen gehörte Jahrhunderte lang zum Territorium des Kurfürstentums Bayern, bis Ende des 18. Jahrhunderts war es Juden nicht erlaubt sich hier niederzulassen. „Viele jüdische Gemeinden entstanden deshalb außerhalb des Kurfürstentums, zum Beispiel in Schwaben“, sagt Direktor. Auch nach der Aufhebung des Niederlassungsverbots in Bayern siedelten sich in Schrobenhausen immer nur vorübergehend Juden an. Im Gebiet des Altlandkreises Schrobenhausen wohnten 1925 nur zwei jüdische Bürger – nach 1933 nur noch einer.

Und mit dem verbindet den Stadtarchivar einiges – was viele überraschen dürfte: Max Direktor ist Enkel des einzigen Juden im Altlandkreis Schrobenhausen während der Nazizeit. Sein Großvater Mosai, genannt Michael, Direktor war im Jahr 1916 als russischer Kriegsgefangener nach Deutschland gekommen. In der Gemeinde Berg im Gau lernte der gebürtige Ukrainer seine spätere Frau kennen und ließ sich dort mit ihr nieder. 1922 heirateten die beiden. Seinen Lebensunterhalt bestritt er mit einer Schuhmacherwerkstatt. Vier Kinder gingen aus dieser Ehe hervor.

Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten folgten schreckliche Jahre: Wie auch allen anderen Juden in Deutschland und Österreich wurde der Familie langsam alles genommen, was sie hatte. Ein trauriger Höhepunkt: die Reichspogromnacht. Zwar gab es keine Schaufenster, die man dem Schuhmacher in Berg im Gau hätte einwerfen können, doch kam es zur Verhaftung von Familienangehörigen. Am 10. November wurde die Schuhmacherwerkstatt auf Anordnung des Bezirksamts und des Schrobenhausener NSDAP-Kreisleiters geschlossen. Am 2. Januar 1939 wurde Mosai Direktor in Form eines Einschreibens informiert, dass sein Eintrag in der Handwerksrolle „auf Grund der Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben“ gelöscht wurde.

Das Ende der Schuhmacherwerkstatt war damit besiegelt. Damit stand die Familie vor dem Nichts. „Das waren dramatische Verhältnisse damals“, erzählt Max Direktor. „Wenn es vorher schon schwer war, dann war es ab diesem Zeitpunkt praktisch kaum mehr möglich, die Familie zu ernähren.“ Denn Juden waren zunehmend auch als Arbeitskräfte unerwünscht. Den Kindern blieb es als „jüdischen Mischlingen ersten Grades“ im Sinne der nationalsozialistischen Rassenlehre verwehrt, Berufe zu erlernen. Pläne zur Auswanderung konnten nicht realisiert werden.

Im Februar 1945 wurde Mosai Direktor ins Konzentrationslager Theresienstadt deportiert. Nachdem im Mai 1945 das Konzentrationslager von der Roten Armee befreit worden war, kehrte er wieder zurück ins Schrobenhausener Land, zurück zu seiner Familie. „Dass er überlebte, hat er wahrscheinlich der Tatsache zu verdanken, dass er vergleichsweise spät ins KZ eingeliefert wurde“, erklärt Direktor. Und das hing wohl damit zusammen, dass er mit einer nichtjüdischen deutschen Frau verheiratet war.

Die Geschichte des einzigen Juden im Schrobenhausener Land ist sicher nur eine von vielen aus dieser Zeit. Doch es ist eine Geschichte, die – wie Max Direktor findet – einmal erzählt werden sollte, gerade zu einem Anlass wie der Reichspogromnacht. Selbst 75 Jahre danach dürfe man nicht aufhören, diesem Tag zu gedenken, an dem jüdischen Mitbürgern nicht nur ihr Hab und Gut, sondern auch ihre Würde genommen wurde, und der Vorbote war für die millionenfache Vernichtung der Juden.