Die Hölle steht Kopf

14.11.2008 | Stand 03.12.2020, 5:25 Uhr

Die Operette als böse Gesellschaftssatire: Szene aus "Orpheus in der Unterwelt". - Foto: Theater Augsburg

Augsburg (DK) Klischees nicht zu bedienen ist an sich eine gute Sache. So geschehen in der Neuinszenierung von Jacques Offenbachs "Orpheus in der Unterwelt" am Theater Augsburg durch Jochen Biganzoli. Bei ihm gibt es kein Ballett, keine üppig roten Rüschenröcke mit Einblicken, keine jauchzend Räder schlagenden und Beinchen werfenden Höllen-Grisetten.

Dafür wird gerade der Cancan zur Schlüsselszene dieser Inszenierung. Hier nämlich bricht alles das durch, was man auf Erden und im Olymp nur mühsam unter Kontrolle hält: die schlechtesten Triebe, anmaßende Machtausübung übelster Sorte. Zum berühmten "Hit" wird Eurydike hier von einem massigen Mars erst angetatscht und dann von Pluto und Jupiter gleichzeitig vergewaltigt, während die feine Göttergesellschaft dazu fröhlich mitwippt. Eine böse Szene, wahrhaftig. Unterstützt wird das Ganze noch vom Bühnenbild: Stefan Morgenstern zeigt im Olymp eine imponierende Halle (etwa einen Hotel-Ballsaal) und die fade Göttergesellschaft beim Bankett im Konsum-Überfluss. Zum Schluss des ersten Teils gibt es dann – nach der Revolution mit Baguette und Champagner-Fahne – den großen (Börsen-)Crash, und der ganze Luxus bricht zusammen. In der Hölle steht dann plötzlich alles Kopf. Die Stimmung aber ist trist. Ein gutes, sehr vielschichtiges Bild.

Allein diese Ansätze zeigen, wie ernst es das Regieteam und das Theater Augsburg (die Dramaturgie hat immerhin Intendantin Juliane Votteler übernommen) mit diesem Stück nehmen. Keine Unterhaltungs-Operette, sondern eine böse Gesellschaftssatire geht da über der Bühne. Nur: Leider bleibt das Konzept – so gut es sein mag – immer wieder in seinen Ansätzen stecken. Das Spiel mit der "öffentlichen Meinung" etwa bleibt aufgesetzte Mediensatire. Hier wäre mehr Platz für aktuelle Anspielungen gewesen. Sehr schwach und wie ein kalter Motor nur sehr langsam anlaufend auch zu Beginn des Stücks die Entwicklung der Beziehung zwischen dem fidelnden Musikus Orpheus und seiner gelangweilten Gattin Eurydike.

Der Hauptgrund aber, warum schärfere Konturen ausbleiben, ist das Fehlen des Kontrasts zwischen der "umgedachten" Regie und der Musik. Wenn – wie bei Karl Andreas Mehling und dem Philharmonischen Orchester Augsburg – Offenbachs spritzige Klänge nur uninspiriert aus dem Graben tröpfeln, kommt einfach kein Gegengewicht zustande. Diese hintersinnige Musik darf alles, nur nicht so brav klingen! Denn gerade im Gegeneinander der tanzseligen Musik mit der böse kommentierenden Szene hätte diese Inszenierung die Durchschlagskraft gewonnen, die ihr schlussendlich doch fehlt. Vielleicht ein Grund, warum das Publikum nur lau klatschte, anstatt Meinung zu zeigen

Auch bei den Sängern wechselhafte Eindrücke. Einzig Sophie Brommer mit wütender Koloraturbrillanz (Eurydike), Manuel Wiencke (der nicht nur wunderbar singt, sondern als Orpheus auch noch höchst achtbar die Violine spielt!) und Roman Payer (Pluto) haben schauspielerisch und sängerisch das Ideal-Format. Ein wenig zu gedämpft wirkt Christian Tschelebiew als Jupiter – und seine Götterschar leidet meist unter zu kleinen Stimmen.