Oliver Zeidler war als Top-Favorit zu den Olympischen Spielen gereist, in Tokio wollte der Ingolstädter Ruderer seine bisher so glanzvolle Karriere mit einer Medaille krönen. Doch der Traum von Gold zerplatzte bereits im Halbfinale. Über die Suche nach Erklärungen, das Hadern mit dem Schicksal und den Umgang mit Niederlagen.
Die Geschichte war fast zu schön, um wahr zu sein, und trotzdem schwang sie bei Oliver Zeidlers Olympia-Mission immer mit: Quereinsteiger aus dem Schwimmsport, irre gute körperliche Voraussetzungen, enorm hohe Arbeits- und Leistungsbereitschaft. In Lichtgeschwindigkeit in höchste Ruder-Sphären vorgestoßen, Deutscher Meister, zweimal Europameister, zweimal Gesamtweltcup-Sieger, Weltmeister im Einer. Alle warteten nur darauf, den letzten, den logisch folgenden Eintrag in Zeidlers Ruder-Vita zu schreiben: Olympiasieger 2021.
Doch Oliver Zeidler, der während der Olympischen Spiele in Tokio 25 Jahre alt wurde, erreichte nicht einmal das Finale. Im Halbfinale zog der Russe Alexander Vyazovkin im Schlussspurt noch am Einer-Fahrer des Donau-Ruder-Clubs Ingolstadt vorbei, 6:45,16 Minuten reichten für Zeidler nur zu Rang vier.
Die Leere seit dem Ende dieses Rennens ist weder bei Zeidler noch bei seinem Vater und Trainer Heino verschwunden. "Dass man beim wichtigsten Wettkampf des Lebens nicht das Ticket fürs Finale gezogen hat, ist ein Schock", sagt der 49-Jährige. Schock, das beschreibt es ziemlich treffend. Niemand hatte diesen Ausgang für möglich gehalten. Die Vorleistungen vor der olympischen Regatta, die souveränen Siege im Vorlauf und im Viertelfinale - die Erwartungshaltung war extrem groß. Zeidler wurde phasenweise zum Retter des schwächelnden deutschen Rudersports emporgehoben, zu einem der großen Gold-Favoriten der deutschen Olympia-Mannschaft.
Die Zeidlers hatten sich dagegen nie gewehrt. "Wenn ich hinfahre, möchte ich auch gewinnen", sagte Zeidler vor den Spielen. Im Gespräch mit unserer Zeitung schränkte er zwar ein, Gold sei "kein festgeschriebenes Ziel". Eine Medaille nahm er sich aber schon vor. Damit stieg nicht nur die Erwartungshaltung, sondern auch die Fallhöhe. Zeidler ist ein Superstar seines Sports, die Finalteilnahme schien nur lästige Pflicht zu sein.
Doch als der 25-Jährige im Halbfinale die Ziellinie im Sea Forest Waterway überquerte und nach links blickte, realisierte er sofort, dass er den Endlauf verpassen würde. Der Grieche Stefanos Ntouskos und der Däne Sverri Nielsen waren sicher weg, auch das Zieleingangssignal von Vyazovkin ertönte vor dem des DRCI-Ruderers. Er habe dann nur ein entsetztes "Nein" ausgestoßen. Danach übernahm die Erschöpfung. Zeidler hatte alles gegeben, und es hatte trotzdem nicht gereicht. "Das war echt scheiße", sagte er nach der Rückkehr aus Japan.
Am Tag nach dem Halbfinale gab Zeidler nach dem B-Finale, das er souverän gewann, dem TV-Sender Eurosport ein Interview. Von den Emotionen übermannt sagte er über die Zeit nach dem Halbfinale einen Satz, der die ganze Tragik dieser Olympia-Mission auf den Punkt bringt: "Ich wusste gar nicht, was ich machen soll." Während dieses Satzes kamen ihm, dem Einer-Dominator, der deutschen Ruder-Hoffnung, dem Dauer-Gewinner, dem eine gewisse Emotionslosigkeit nachgesagt wird, die Tränen. Normalerweise weiß Zeidler immer, was er machen soll.
Der 25-Jährige hat sich parallel zu Studium und Beruf innerhalb von fünf Jahren auf Weltklasse-Niveau hochgearbeitet. Das erfordert viel Disziplin und Zeitmanagement. Training vormittags, Training nach Feierabend, Krafttraining, Einheiten beim Physiotherapeuten. Gemeinsam mit seinem Vater richtete er alles auf dieses Olympia-Ziel aus. Sie planten haargenau, wann welches Trainingslager stattfindet, welche Regatta man aus dem Training und welche man mit gezielter Wettkampfvorbereitung fährt. In welchem Wasser man die letzten Einheiten absolviert, um sich auf die Regattastrecke in Tokio vorzubereiten, und wie man die japanischen Temperaturen in Deutschland simuliert. Oliver und Heino Zeidler waren sich sicher, dass das bei Olympia klappen wird. Sie wollten nichts dem Zufall überlassen. Und dann war es der Zufall, der alle Träume so früh beendete.
Denn der DRCI-Ruderer zeigte eigentlich ein gutes Rennen. Nach 500 Metern war er Dritter, bei der 1000- und der 1500-Meter-Marke Zweiter. "Auf den letzten 150 Metern hatte ich extremes Pech mit den Bedingungen, weil ich eine Böe und eine Welle abbekommen habe", erklärt er. "Es hat mich dann in die Leine getrieben, ich musste auf der linken Seite fünf Schläge mehr ziehen. Das hat mir das Genick gebrochen." Der 25-Jährige verlor im Schlussspurt Tempo, seine Konkurrenten nicht.
Die äußeren Bedingungen waren während der gesamten olympischen Regatta ein Thema. Zu Beginn wurden Rennen wegen eines Taifuns verschoben, die letzten Rennen aber bei größerer Windstärke durchgezogen. "Man musste das Boot vor dem Halbfinale mit drei Leuten zum Wasser tragen, sonst wäre es weggeweht worden", sagt Heino Zeidler. "Das haben wir so noch nie trainiert, bei solchen Bedingungen gehen wir nie aufs Wasser." Man hätte das Rennen verlegen können, findet Heino Zeidler. "Das war schon krass."
Auch das ist Teil der Tragik dieser Olympia-Mission. Dass man es erklären kann und irgendwie auch nicht. Zeidler war auf den Punkt fit, ließ sich von der Stimmung im olympischen Dorf nicht ablenken, ging im Finale körperlich komplett an seine Grenzen und ruderte technisch stark. "Ich habe das nicht verstanden. Wenn man als Top-Favorit alles gibt, dann sollte doch im Halbfinale ein Finalplatz bei rumkommen", sagt Zeidler. Wenn die Erklärung in den äußeren Bedingungen statt der eigenen Leistung liegt, dann landet man schnell beim Schicksal. "Warum an diesem Tag?", fragt Heino Zeidler. "Als ob der Wettergott etwas dagegen gehabt hätte."
Oliver Zeidler und sein Vater knabbern an dieser Niederlage, das merkt man in den Gesprächen. Dafür war die Erwartungshaltung der beiden und der Öffentlichkeit zu groß. Ein siebter Platz ist zu weit weg von zuvor artikulierten Plänen und Träumen. "Ich konnte mich nach dem Halbfinale sehr lange nicht auf den Beinen halten, da war kein Grund weiterzumachen. Wenn man gerade ein Halbfinale verloren hat, dann sagt das Gehirn ,Scheiße'", erzählt Zeidler.
Trotzdem ist der 25-Jährige wieder recht schnell in den Modus gekommen, in dem er weiß, was zu tun ist. Ziemlich direkt nach dem Rennen schaute er sich die Aufzeichnung an. Die Zeidlers wollen keine Ausreden suchen. "Wir müssen lernen, bei diesen Bedingungen besser zu rudern", sagt Heino Zeidler. "Oliver rudert seit fünf Jahren. Nur fünf Jahre zu brauchen, um bei Olympia als Top-Favorit an den Start zu gehen, ist nicht normal." Deswegen hatten sich ja alle auf eine Goldmedaille eingestellt. Weil sie der passende Höhepunkt einer durch und durch unnormalen Erfolgsgeschichte gewesen wäre.
"Es ist traurig gewesen, dass es leider so enden musste", sagte Zeidler noch in dem emotionalen TV-Interview. Aber die Reise ist noch nicht zu Ende. "Ich möchte es natürlich besser machen in drei Jahren." Im Oktober geht es mit dem Training weiter. 2022 wartet die Heim-EM in München, 2023 soll die Qualifikation für Olympia 2024 in Paris gelingen. Es ist noch genug Zeit für den fehlenden Eintrag in seiner Ruder-Vita.
DK
Christian Missy
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