Aichach
Der Hütchenspieler

"Nettsein ist auch keine Lösung": Kolumnist Harald Martenstein liest in Aichach und überrascht mit ernsten Themen

22.03.2018 | Stand 02.12.2020, 16:39 Uhr

Plädoyer für mehr Gelassenheit: Harald Martenstein las in Aichach aus seinen "Zeit"-Magazin- und "Tagesspiegel"-Kolumnen. - Foto: Winter

Aichach (DK) Wie lässt sich verhindern, dass Menschen aus Afrika aus ihren Ländern flüchten und dabei ihr Leben riskieren? Harald Martenstein hat darauf eine einfache Antwort: Er würde den Kolonialismus wieder einführen, natürlich einen soften, nachhaltigen und sensiblen Öko-Kolonialismus mit Mindestlohn, Solardächern und Gleichstellungsbeauftragten in jedem Dorf. Nach ein paar Jahren, glaubt Martenstein, hätten sich die Lebensverhältnisse in den afrikanischen Ländern den hiesigen angenähert.

Die Kolonisierten könnten dann per Volksabstimmung entscheiden, ob sie weiter zu Frankreich, Großbritannien oder Deutschland gehören oder ob sie zum vorherigen Zustand zurückkehren wollen.

Gedankenspiele wie diese haben den Journalisten Harald Martenstein bekannt gemacht. Und sie sorgen regelmäßig dafür, dass sein E-Mail-Postfach überquillt mit Beschimpfungen und Hasstiraden. Martenstein, geboren 1953, ist Autor der Kolumne "Martenstein" im "Zeit"-Magazin und Redakteur beim Tagesspiegel. In dieser Funktion macht er sich nicht selten lustig über politische Korrektheit und den Feminismus. 2013 löste er mit einem kritischen Artikel zur Genderforschung gar eine deutschlandweite Debatte aus. Martensteins Antwort darauf: Als Kolumnist muss man ein egozentrisches Arschloch sein, um zu überzeugen. Bei seiner Lesung in der Buchhandlung Rupprecht in Aichach präsentierte sich den etwa 100 Zuhörern ein ganz und gar anderer Martenstein. Statt eines lauten Tabubrechers bekamen die Gäste einen sanften, gut gelaunten Humoristen mit langen grauen Haaren und Jogi-Löw-Schal zu sehen, quasi eine Langhaarversion von Fernsehlegende Loriot. Mehr als ein Dutzend seiner Kolumnen trug Martenstein vor. Darin ging es um Politik, die Liebe der Deutschen zur Nacktheit oder ganz alltägliche Probleme. Seinen am heftigsten diskutierten Text hatte der Wahl-Berliner ebenfalls im Gepäck. Worum es darin geht? Weder um Gutmenschen noch den Islam. Das alles scheint die Deutschen nicht so aufzubringen wie das Thema Schnecken.

Hunderte Briefe - und Mini-Elektrozäune - bekam Martenstein nach eigenem Bekunden zugesandt, als er in einer "locker leicht gedachten Sommer-Kolumne" darüber berichtete, wie er mit der Schneckenplage in seinem Garten fertig wurde: Indem er die schleimigen roten Dinger einfach aufspießte. Auch da war ihm der Shitstorm sicher.

Viele seiner Texte funktionieren ähnlich: Martenstein nimmt sich ein Thema zur Brust und spinnt es auf absurde Weise fort. So zum Beispiel die Forderung, Flüchtlinge künftig nicht mehr Flüchtlinge, sondern Geflüchtete zu nennen. Was, fragt Martenstein halb ernst, halb ironisch, macht man dann mit Wörtern wie Zwilling, Sprössling oder Frühling?

Neben klassischen Glossen erzählt der Autor, zweifache Vater und Redakteur viel aus seinem eigenen Leben. Und er kann durchaus auch ernst sein. In einem Text etwa beschreibt er das zähe Ringen seines Vaters mit dem Tod.

Lesenswert machen Martensteins Kolumnen vor allem seine klugen, teils abstrusen Einfälle. Der 64-Jährige mit dem jugendlichen Auftreten hat den Gedankensprung zur Kunst erhoben. Wie ein Hütchenspieler zaubert er die Nuss einmal hier, einmal da hin, verliert dabei aber nie den Faden. Sich mit Deutschlands vielleicht wichtigstem Kolumnisten anzulegen, kann übrigens schnell nach hinten losgehen.

Kostprobe gefällig? In einem Antwortschreiben an eine Genderforscherin und Feministin kontert Martenstein die Kritik, er würde nur Altherrenwitze erzählen. Wie seine Antwort genau ausfiel? Sagen wir mal so: Die Schnecken in seinem Garten hatten wohl einen schöneren Tod.