Das Wunder von Wigtown

19.09.2019 | Stand 02.12.2020, 13:01 Uhr
Der Herr im Holzfällerhemd ist ein Mann der Tat: Second-Hand-Buchhändler und Bestseller-Autor Shaun Bythell (oben links) hat sich als Trophäe einen mit der Schrotflinte kaputtgeschossenen Kindle (unten links) an die Wand gehängt. Hier allerdings ist er gerade ganz freundlich und begrüßt Gäste beim Wigtown Book Festival in seiner Buchhandlung. Im Hintergrund harrt die Bookshop-Band ihres Auftritts. Über dem Marktplatz von Wigtown (unten rechts) sorgt ein Regenbogen fürs passende Ambiente. −Foto: Auer/Bythell

Ein 1000-Seelen-Nest an Schottlands Südwestküste ist von der Begeisterung für Bücher wachgeküsst worden und wurde zur "Nationalen Buchstadt". Das Tagebuch eines kauzigen Second-Hand-Buchhändlers wurde zum Beststeller, ebenso die romantischen Memoiren seiner Ex-Freundin. Jetzt beginnt das jährliche Literatur-Festival.

Dies ist eine Geschichte aus einem winzigen Küstenkaff im Südwesten von Schottland - und jederzeit könnte man glauben, das hätte sich ein begabter Drehbuchautor erfunden, damit sich die Leute im Kino wieder so eine herzerwärmende, irgendwie auch märchenhafte Geschichte aus der Provinz anschauen können. Es geht dabei um skurrile Menschen mit dem Herzen auf dem rechten Fleck. Es geht um ein Städtchen im Niedergang, das sich auf wundersame Weise ganz neu erfunden hat. Es geht um eine ziemlich unwahrscheinliche Liebesgeschichte über den Atlantik hinweg. Und der Dreh- und Angelpunkt der ganzen Sache sind Literatur und schöne alte Bücher. Herz: Was willst du mehr? Willkommen in Wigtown!

Wigtown ist ein knapp 1000 Einwohner kleines Städtchen in Schottland - und zwar nicht da, wo die Dudelsackpfeifer Folklore verbreiten und feine Herrschaften in ihrer Freizeit auf Moorhuhnjagd gehen. Wigtown liegt hart an der Grenze zu England, in der Region Dumfries and Galloway, touristisch ist das gnadenlos im toten Winkel, und das bekannteste, was man aus der Gegend kennt, sind die wunderlich gestreiften Galloway-Rinder. Ansonsten gibt es viele Schafe und wenige Arbeitsplätze. Der kleine Hafen von Wigtown ist geschlossen, die Molkerei hat schon lange zugemacht, die Whisky-Destillerie desgleichen - und das soll in Schottland was heißen. Aber dafür gibt es in diesem Nest im schottischen Nirgendwo zehn (!) Buchhandlungen. Und jedes Jahr ein Literaturfestival der Extraklasse. Vom 27. September bis zum 6. Oktober ist es wieder soweit. Zehn Tage dauert das Wigtown Book Festival. Dann ist es, als würde das sonst ziemlich verschlafene Städtchen von der Kultur wachgeküsst. Es ist jedes Mal ein kleines Wunder - heuer schon zum 21. Mal.

Alles fing mit einem Engländer namens James Carter an, der vor Jahrzehnten auf die Idee verfiel, ausgerechnet in Wigtown einen Laden für antiquarische Bücher zu eröffnen, die er in ganz Schottland zusammenkaufte. Viel Billigware, aber auch echte Raritäten. Das lief so gut, dass er auch noch einen zweiten Laden aufmachte. Als die britische Regierung einen Wettbewerb um den Ehrentitel einer "National Book Town" für Schottland ausschrieb, da bewarb sich Wigtown und wurde prompt ausgewählt: Seit 1998 heißt es also "Wigtown The Booktown", und es gibt keinen Zweifel, dass sich der Ort dieser Ehre seitdem mehr als würdig erwies. Das liegt nicht nur am Literatur-Festival, das punktgenau zur Ernennung ins Leben gerufen wurde. Sondern auch an Leuten wie Shaun Bythell.Bythell stammt von einem Bauernhof ganz in der Nähe, ging ins Internat und zum Studium und stellte im Jahr 2001 fest, dass daheim Buchhändler Carter altersbedingt einen Nachfolger für "The Bookshop" suchte. Bythell, Literaturliebhaber, aber kaufmännischer Laie, nahm sich einen Kredit und kaufte das Haus mitsamt Laden und Buchbestand - damals etwa 100000 Exemplare. Der Hüter der Bücher ist ein großgewachsener Mann mit Nerdbrille und rotem Wuschelhaar, dazu notorischer Träger von Holzfällerhemden, in der Brusttasche der Tabakbeutel für die Selbstgedrehten. Sein Laden ist ein labyrinthischer Fuchsbau von Einzelräumen, die vom Boden bis zur Decke mit Büchern vollgestapelt sind, säuberlich nach Themen sortiert. In einen der Räume hat er ein Hochbett gezimmert - für Gäste, die von Literatur nicht genug kriegen können, im Hauptraum prasselt ein Kaminfeuer. Laden-Kater Captain lungert in einem Regal. An der Wand hängt eine Jagdtrophäe der ganz besonderen Art. Ein von Schrotkugeln zertrümmerter Amazon-"Kindle" fürs elektronische Bücherlesen. Die stilechte Aufschrift auf einem Messingschildchen: "Erlegt von Shaun Bythell am 22. August 2014 in der Nähe von Newton Stewart." Bythell, man ahnt es, ist kein ganz gewöhnlicher Buchhändler. Er ist ein Büchermensch durch und durch, der mit seinem Lieferwagen durch ganz Schottland fährt, um eingestaubte Hausbibliotheken zu begutachten und die besten Stücke in seinen Laden zu verfrachten. Von dort aus verkauft er dann online in alle Welt. Oder direkt über die Ladentheke, und man möchte kaum glauben, wieviel Publikumsverkehr es hier am Ende der Welt gibt. Eine oft ziemlich wunderliche Kunden- und Mitarbeiterschar gibt sich bei Bythell die Klinke in die Hand. Und immer, wenn das Book-Festival ansteht, dreht die ganze Stadt am Rad - und Bythell ist mittendrin.

Irgendwann kam er auf die Idee, sein Tagebuch zu veröffentlichen, mit dem schlichten Titel "Tagebuch eines Buchhändlers", in dem er völlig lakonisch und gerade deswegen oft zum Kichern komisch beschreibt, was ihm ein Jahr lang (anno 2014) widerfährt. Das Buch: Es wurde zum Bestseller, ist in über 20 Sprachen übersetzt und gerade eben auch auf Deutsch beim Verlag btb erschienen, passend zur Frankfurter Buchmesse. Die Übersetzung stammt von Mechthild Barth und ist so kreuzbrav-korrekt, dass man zwischendurch eine Gedenkminute für Harry Rowohlt einlegt.

Bythell ist umzingelt von nervtötenden Kunden jeden Alters. Von freundlichen Sonderlingen. Von unverschämt-rotzfrech-fröhlichen Angestellten. Von älteren Herren, deren Lieblingsbücher allesamt von historischen Eisenbahnen handeln. Er trifft auf die Dame Mitte 70, die ihm erotische Bildbände aus den 1960er-Jahren verkauft und zum Abschied sagt: "Ich bin gespannt, ob Sie rausfinden, welches der Models ich bin." Oft taucht auch der bibliophile Mr. Deacon auf, ein treuer Kunde mit Marotten: "Bein Hinausgehen fiel mir auf, dass sein linker Schuh fehlte." Im Tagebuch tut sich ein schottisches Panoptikum auf. Und passend zum Klischee wimmelt es von Sparfüchsen, die dem armen Bythell seine ohnehin kärgliche Gewinnspanne herunterhandeln wollen. So wie jener Herr, der schon seit Jahren nach einem bestimmten Buch sucht und es nun - endlich, endlich! - im Bookshop aufstöbern konnte. Noch dazu als seltene Edition. Jubelrufe? Fehlanzeige. Der Mann schreckt angesichts des Preises (23 Pfund) zurück: "Das scheint mir sehr viel Geld für ein altes Buch zu sein." Der Buchhändler läuft unter diesen Vorzeichen permanent Gefahr, pleite zu gehen, vor allem aber, zum missmutigen Menschenfeind zu werden. Publikumsverkehr, das lehrt ihn seine Erfahrung, ist in viel zu vielen Fällen eine einzige Zumutung. Das ist der Fall, wenn eine ganze Busladung von Rentnern in seinen Laden strömt. Den Senioren geht es allerdings ausschließlich um die Nutzung der Toilette. Der einzige, der ein Buch kauft, entpuppt sich als der peinlich berührte Busfahrer.

Das könnte nun auch ein bisschen traurig sein, wenn die Welt der Literatur nicht manchmal ein Wunder bereithalten würde. Oder sogar zwei. Wunder Nummer zwei ist, dass das Tagebuch zum Bestseller wurde. Das Wunder Nummer eins aber heißt Jessica Fox. Fox ist eine US-Amerikanerin, die einstmals bei der NASA im Marketing arbeitete - und dort in der kalifornischen Sonne den seltsamen Traum hatte, einmal im Leben an Schottlands Küste in einem Buchladen als freiwillige Hilfskraft mitzuarbeiten. Sie kramte sich im Internet eine Adresse heraus, nahm Kontakt auf, erwartete als Buchhändler-Chef einen ehrwürdig-ergrauten schottischen Gentleman und stand stattdessen Shaun Bythell gegenüber. Es wurde eine Liebesgeschichte wie aus dem Bilderbuch - über Jahre hinweg.

Die Frau von der NASA hatte daraufhin zwei gute Ideen: Zum einen schloss sie von sich auf andere - es müsse in der Welt doch mehr Leute geben, die gerne hobbymäßig für ein Weilchen Buchhändler spielen würden. Also baute sie ausschließlich für diesen Zweck ein paar Häuser vom Bookshop entfernt ein Anwesen zum Hobby-Laden um, Wohnung inklusive. Kaum zu fassen: Das Geschäft namens "The Open Book" ist immer drei Jahre im Voraus ausgebucht - der Erlös aus dem Bücherverkauf geht ans Buchfestival. Fox' zweiter Streich: Sie dengelte aus ihrer wundersamen transkontinentalen Liebesgeschichte ein Buch namens "Drei Dinge, die Sie über Raketen wissen sollten" - diese romantischen Memoiren wurden ein Bestseller. Die geplante Verfilmung liegt aber auf Eis, denn Fox und Bythell haben sich inzwischen in Freundschaft getrennt. Nicht so schlimm: Die Sache ist ohnehin schon kitschig genug. Es ist, als hätte mit dem Einzug der Literatur ein Regenbogen über diesem fast vergessenen Stückchen Schottland zu leuchten begonnen. Junge Leute sind zugezogen, mal für kurz, mal für länger. Die anfängliche Skepsis der Alteingesessenen ist längst vorbei. Ach ja: Es hat sich auch noch jemand gefunden, der die Whisky-Brennerei wieder aufgemacht hat und edlen Single Malt destilliert.

So geht das in Wigtown und Umgebung, und wer's nicht glaubt, der muss zum Book-Festival fahren. Das ganze Örtchen ist auf den Beinen, im Rathaussaal und in zwei eigens am Marktplatz aufgebauten Zelten wird gelesen und moderiert und diskutiert, die BBC ist mit ihren Literaturexperten da, und wenn Zeit ist, sitzt auch mal die schottische Ministerpräsidentin Nicola Ferguson Sturgeon auf dem Podium. Shaun Bythell gibt in seiner Buchhandlung eine Führung vom Garten bis hinauf in seine große Privatküche, wo es Rotwein für alle gibt. Dazu spielt die zweiköpfige Bookshop-Band, ein junges Paar, das wie manche andere der Faszination von Wigtown erlegen ist und nun zur Buchmesse überall die musikalische Begleitung liefert. Zur Führung gehört dann auch, dass Jessica Fox da ist und kurz erklärt, wie das so war mit ihrem "Ex" und ihren Memoiren. Dann sitzt auch noch ein Stammgast aus dem Laden nackt bis auf die Turnhose und tätowiert vom kleinen Zeh bis zum Ohrläppchen in einem Ledersessel und trägt mit sonorer Stimme zwei Gedichte aus eigener Feder vor. Der Mann taucht selbstverständlich auch im Tagebuch auf und hat da den Ehrentitel "Sandy, der tätowierte Heide". Sandy ist ein Freund des Hauses. Und das gilt für so viele andere, die im Bookshop während des Literaturfestivals Obdach finden, gerne auch mitten zwischen den Büchern - im Hochbett. Ganz in der Nähe des zerschossenen Kindle-Lesegeräts.

Shaun Bythell, der ebenso freundliche wie feierfreudige Gastgeber, hat übrigens mal bemerkt, dass einer der Übernachtungsgäste die altmodische Nachttischlampe oben am "Festival-Bett" ausgesteckt hatte. Mitten in diesem Bergwerk voller Bücher brauchte der Mensch vor dem Einschlafen nämlich eine freie Steckdose. - Für seinen Kindle.