Ingolstadt
Das Übel an der Wurzel packen

Tinnitus, Rücken- oder andere Schmerzen können Ursache in Fehlbehandlung beim Zahnarzt haben

11.04.2017 | Stand 02.12.2020, 18:19 Uhr

Forscht seit 30 Jahren in Sachen Kiefergelenk: der Ingolstädter Zahnarzt Gerd Christiansen. Mit diesem computergestützten Diagnosegerät, das er selbst mitentwickelt hat, können Bewegungen des Kiefergelenks hochpräzise dargestellt werden. In seinem neuen "Kiefergelenk-Buch" geht er auch mit seiner eigenen Berufsgruppe ins Gericht. - Foto:

Ingolstadt (DK) Wer Rückenschmerzen hat, geht zum Orthopäden, bei Kopfschmerzen ist zumeist der Hausarzt der erste Ansprechpartner. Doch was, wenn die Ärzte keine Ursache für die quälenden Beschwerden finden? Vielleicht liegt diese ja in einer längst zurückliegenden Zahnbehandlung.

Unerklärlicher Schwindel, Ohrenschmerzen oder Ohrgeräusche, die der Hals-Nasen-Ohrenarzt nicht begründen kann, Kiefergelenks- oder Zahnschmerzen haben oft, genauso wie Rücken- oder Kopfschmerzen, eine Ursache, an die die meisten Menschen nie denken würden, sagt der Ingolstädter Zahnarzt Gerd Christiansen (70). Er beschäftigt sich seit 30 Jahren mit dem Kiefergelenk, jenem kleinen und extrem präzise arbeitenden Körperteil, der unseren Unterkiefer (Mandibula) mit dem Kopf (Cranium) verbindet. Drei Bücher hat der Zahnarzt, der in Ingolstadt neben einer Praxis mit Schwerpunkt Funktionelle Zahnheilkunde seit 1999 ein Institut für Fortbildungen und Entwicklungen auf dem Gebiet der Biodynamik des Kiefergelenks führt, mittlerweile geschrieben. Sein neuestes Werk "Das Kiefergelenk-Buch" richtet sich in erster Linie an Patienten. "Schmerzen ohne Grund", lautet der Untertitel des Patienten-Ratgebers.

Experten gehen davon aus, dass zwischen drei und acht Millionen Deutsche unter Beschwerden einer sogenannten Craniomandibulären Dysfunktion, kurz CMD, leiden. Fünf bis zehn Prozent der Bevölkerung sind von dieser Funktionsstörung des Kiefergelenks betroffen. "Die Dunkelziffer ist noch viel höher", sagt Gerd Christiansen. Er geht davon aus, dass bis zu 70 Prozent der Bevölkerung im wahrsten Sinne des Wortes nicht "den richtigen Biss" haben.

Manche haben dadurch keine Probleme. Andere leiden ungemein. Wie eine Patientin Christiansens, ein Extrembeispiel: "Ich war schon überall, aber niemand konnte mir helfen, niemand glaubt mir mehr", berichtete Hilde M. (Name geändert) unter Tränen. Zu Hause hänge bereits der Haussegen schief, weil man ihr Gejammere nicht mehr ertragen könne. Alle Zähne schmerzten, der Zahnarzt habe aber nichts finden können. Morgens sei sie total verspannt. Den ganzen Tag über Kopfschmerzen, Rückenschmerzen, Schmerzen im Ohrbereich, Schmerzen in den Knien, taube Fingerspitzen halbseitiger Gesichtsschmerz, die Folge waren irgendwann Depressionen. "Das ist das Vollbild einer CMD", sagt Christiansen.

Der Zahnarzt spricht offen aus, was viele Kollegen nach seiner Überzeugung verschweigen: Seiner Meinung nach ist die Ursache für CMD in den meisten Fällen beim Zahnarzt oder Kieferorthopäden zu suchen. "Fehlbehandlungen sind normal", sagt Christiansen. In seinem Buch drückt er sich etwas vorsichtiger aus: "Der Verdacht liegt nahe, dass zahnärztliche und kieferorthopädische Tätigkeit an der Entstehung von CMD beteiligt sind." Etwa bei der Sanierung von Zahnersatz, wenn zu viel oder zu wenig abgeschliffen werde. Hat der Patient, nachdem ihm eine Krone eingesetzt wurde, das Gefühl, "die Zähne passen nicht mehr richtig aufeinander", müsse dieser Umstand beseitigt werden. Ansonsten versuche die Kaumuskulatur durch Knirschen und Pressen der Zähne, den Biss wiederherzustellen. Die Folge: Die Zähne werden locker und überempfindlich, die Muskulatur hyperaktiv.

So werde die Schuld in der Regel nicht dem Zahnarzt, sondern dem Patienten zugeschoben: Würde der nicht mit den Zähnen knirschen und pressen, hätte er die Probleme nicht, heißt es. Für Christiansen ist das nur "eine Teilwahrheit", die sich aber gut vermarkten lasse. Der Patient bekomme eine Knirscherschiene. "Die wird von der Kasse bezahlt und bringt oft null", sagt Christiansen.

Für die Diagnose und auch für die Therapie der CMD gibt es verschiedene Methoden. Christiansen stellt sie in seinem Buch vor. Für ihn zählt aber nur eine Methode: die computergestützte Funktionsdiagnostik. Nur sie ermögliche, hochpräzise und zeitgetaktet die Bewegungen des Kiefergelenks zu visualisieren. Bei einem Kongress in Bad Homburg sei er vor 30 Jahren "bis in der Früh um 5" mit dem Würzburger Physiker und Zahnarzt Rolf Klett zusammengesessen. Dieser habe ein entsprechendes Messgerät entwickelt. Christiansen hat es gekauft und für sich noch weiterentwickelt. Das Gerät, das jetzt in seiner Praxis steht, "gibt es nur einmal auf der Welt", sagt Christiansen.

Nur mittels computergestützter Funktionsanalyse könne die Breite des zwischen Gelenkkopf und Gelenkpfanne gelegenen Spalts exakt gemessen werden. Das sei wichtig, damit die Schiene, die die Dysfunktion ausgleichen soll, passt. Mit einer solchen biodynamischer Schiene ist laut Christiansen ein Einschleifen nicht nötig. Der Patient trägt das zwischen Ober- und Unterkiefer gelegene Kunststoffteil anfangs zumeist Tag und Nacht, später oft nur nachts. Die Kosten für die Therapie - laut Christiansen je nach Behandlungsfall zwischen 2500 und 3500 Euro - übernimmt die gesetzliche Krankenkasse bislang nicht.

Eine solche Schiene bekam auch Hilde M., die sich bei Christiansen einer Funktionstherapie unterzog. Heute, schreibt der Zahnarzt in seinem Buch, "genießt sie ihr neues Lebensgefühl".

 

Gerd Christiansen, "Das Kiefergelenk-Buch", ISBN 978-3-00-053816-2, 179 Seiten, ist für 36,80 Euro bei Gerd Christiansen, im Buchhandel oder übers Internet zu beziehen.