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"Das Gericht bewegte sich auf dünnem Eis"

Rechtsprofessor Hans Kudlich über das Urteil 2006 und die Probleme bei Indizienprozessen

04.07.2014 | Stand 02.12.2020, 22:30 Uhr

Rechtsprofessor Hans Kudlich über das Urteil 2006 und die Probleme bei Indizienprozessen

Herr Kudlich, die Straftaten, die Gustl Mollath begangen haben soll, liegen 13 Jahre zurück. Lässt sich das alles überhaupt noch rekonstruieren?
 
Hans Kudlich: Je länger der zeitliche Abstand zur Tat, desto schwieriger ist die Rekonstruktion – das ist richtig. Im speziellen Fall beruht vieles aber auf Schriftstücken. Briefe und Atteste wurden herangezogen. An den Schriftstücken hat sich ja nichts geändert. Es geht auch um Vorfälle, die den Leuten – wenn sie denn so passiert sind – doch sehr deutlich in Erinnerung sein dürften.

 

Die Beweislage galt aber schon im ersten Verfahren als dünn.

Kudlich: Das erste Verfahren war im Wesentlichen ein Indizienprozess. Es gab für die Vorwürfe zum Teil keinen Augenzeugen und nur nur Aussagen des Opfers. Die Würdigung der Indizien kann durch das Gericht heute durchaus anders ausfallen. Bei einem Indizienbeweis sind die Richter innerhalb der Logik und der Denkgesetze sehr frei in ihrer Überzeugungsfindung. Ich würde aber schon sagen, dass sich das Landgericht Nürnberg damals auf sehr dünnes Eis begeben hat.

 

Theoretisch könnte Mollath – wenn der Gutachter das für geboten hält – wieder in die Psychiatrie kommen. Wie wahrscheinlich ist das?

Kudlich: Ohne ein psychologischer Fachmann zu sein, halte ich das auch für unwahrscheinlich. Herr Mollath ist nun schon seit einem Jahr wieder auf freiem Fuß. Es gibt meines Wissens keine Anhaltspunkte dafür, dass von ihm Gefahr ausgeht. Er hat es auch mit seinem Verhalten im Prozess sehr stark in der Hand. Im ersten Verfahren war er Gutachtern und Richtern wohl auch deshalb suspekt, weil er offenbar sehr unkooperativ war.

 

Die öffentliche Meinung ist auf Mollaths Seite. Stehen die Richter da nicht unter großem Druck, ihn freizusprechen?

Kudlich: Grundsätzlich habe ich ein großes Vertrauen in die Professionalität unserer Gerichte. Es wird auch viel für die Unabhängigkeit der Richter getan. Aber natürlich ist eine Würdigung von Indizien immer auch eine Bauchentscheidung. Ich würde für mich nicht sicher in Anspruch nehmen, dass ich als Richter die öffentliche Meinung völlig ausblenden könnte.

 

Hat das Ansehen der bayerischen Justiz im Fall Mollath Schaden genommen?

Kudlich: Meiner Ansicht keinen bleibenden. Überall, wo Menschen tätig sind, kann es zu Fehlern kommen. Wenn man die Vielzahl der Fälle betrachtet, die täglich durch unsere Gerichte geschleust werden, ist die Fehlerquote relativ gering. Positiv finde ich, dass die Bevölkerung sich intensiv mit dem Justizsystem beschäftigt hat. Ich glaube, da ist auch Sensibilität dafür entstanden, dass man sich auch das Schicksal von Verurteilten genauer ansehen sollte.

 

Das Interview führte Til Huber.