Ingolstadt
Blutwurst und Unterwäsche

Sabine Wackernagels erkenntnisreicher Abend über "Goethes dicke Hälfte" in Ingolstadt

07.10.2014 | Stand 02.12.2020, 22:09 Uhr

Christiane Vulpius war 28 Jahre lang Goethes Lebensgefährtin: Sabine Wackernagel hat aus Tagebuchaufzeichnungen, Briefen und Gedichten einen erkenntnisreichen Theaterabend entwickelt - Foto: Dorn

Ingolstadt (DK) „,Sie toll gewordene Blutwurst‘, so schrie sie mich an – die von Arnimsche.“ Christiane Vulpius’ Augen funkeln. Sie ist laut geworden. Fuchtelt mit den Armen. Ist noch immer empört. Dann eine kleine Pause. Ein Lächeln. Ein bisschen maliziös. Auf jeden Fall sehr zufrieden. „Goethe hat sie nicht mehr eingeladen – auch nach meinem Tod nicht.“

Mit dem Goethe-Gedicht „Gefunden“ („Ich ging im Walde so für mich hin ...“) hatte Sabine Wackernagel den Abend im Altstadttheater im Rahmen der Künstlerinnentage begonnen. Der Dichterfürst hatte es Christiane einst zu ihrem 25. Jahrestag gewidmet, beschrieb es doch die Beziehung der beiden. „Goethes dicke Hälfte“ hat Wackernagel ihre Hommage an Christiane Vulpius genannt. Denn so war diese von der Weimarer Gesellschaft verspottet worden. Oder auch: Mätresse, Goethes Kreatürchen, seine Füchsin, ein rundes Nichts (wie Schillers adlige Frau Charlotte ätzend bemerkte), ein schönes Stück Fleisch (wie sie Thomas Mann nennen wird). Und doch: 28 Jahre lang blieb Christiane Vulpius treu an Goethes Seite. Von der ersten Begegnung der 23-Jährigen mit dem 39-Jährigen im Jahr 1788 bis zu ihrem qualvollen, einsamen Tod am 6. Juni 1816 erzählt Sabine Wackernagel (Goethe überlebte nicht nur sie, sondern auch ihren gemeinsamen Sohn August). Von den ärmlichen Verhältnissen, aus denen sie stammte. Von ihrer Arbeit in Bertuchs Manufaktur zur Herstellung künstlicher Blumen („Wir waren berühmt, wir Putzmacherinnen aus Weimar – wir waren Künstlerinnen“). Von ihrem Verhältnis zu Goethe, das nicht lange geheim bleiben konnte. Vom Gartenhaus. Von den Anfeindungen, denen sie ausgesetzt war, bis Goethe sie nach 18 Jahren wilder Ehe 1806 schließlich doch heiratete, sie zur „Geheimrätin von Goethe“, später zur „Frau Staatsministerin“ machte. Von seiner Arbeit. Von den Zeitumständen. Von den fünf Kindern, von denen außer August keines überlebte. Von Schiller und Herder. Von Frau von Stein und Catharina Goethe. Vom Alltag („Niemals hätte ich eine Magd an Goethes Unterwäsche gelassen“). Von Klatsch und Außenseitertum. Von Angst und Einsamkeit. Und immer wieder: von ihrer großen Liebe.

Aus Briefen und Tagebuchaufzeichnungen, Gedichten und Korrespondenzen von Goethe und seinen Zeitgenossen und vor allem aus Sigrid Damms detailgenauer Biografie über die Goethe-Geliebte hat Sabine Wackernagel diese so lehrreiche wie unterhaltsame Hommage zusammengestellt. Und weil sie einfach eine großartige Schauspielerin ist – seit 2007 war sie immer wieder als Gast am Theater Ingolstadt zu erleben –, ist dieser Abend darüber hinaus anrührend, zart, verwegen, komisch, traurig.

Sabine Wackernagel spielt Christiane Vulpius, das junge, aufgeweckte Mädchen, die Verliebte, die leidenschaftliche Theaterbesucherin, die tüchtige Hausfrau, die tatkräftige Helferin im Hintergrund, die dafür sorgte, dass der Geheime Rat trotz seiner vielen Staatsgeschäfte überhaupt zum Dichten kam, die Dulderin, die Gefährtin. Allein mit ihrer Sprechkunst vermag sich Sabine Wackernagel all diese Rollen anzuverwandeln, fällt gern auch mal in den weichen Thüringer Dialekt, zitiert dazwischen aus Goethes Werk und vermittelt darüber hinaus überraschend neue Einblicke in beider Welt. Ein schöner, erkenntnisreicher Abend.