"Ausgehungert nach der direkten Begegnung"

14.06.2020 | Stand 02.12.2020, 11:10 Uhr
Mit der Uraufführung "Oracle" von Susanne Kennedy und Markus Selg starten die Münchner Kammerspiele heute nach dem Lockdown. −Foto: Selg

Theater unter freiem Himmel für 100 Besucher oder im Saal für 50 auf Abstand? Ab heute dürfen die bayerischen Bühnen wieder öffnen - unter strengen Sicherheitsauflagen. In Augsburg wird der "Kunstrasen" ausgerollt, in Landshut veranstaltet man ein musikalisches Picknick und im Gärtnerplatztheater darf man "Einmal König sein!". Ein Überblick.

 

München - Theater an der frischen Luft? Als Parcours? Oder im Saal und auf Abstand? Nach Beschluss der bayerischen Staatsregierung ist der Spielbetrieb für Theater ab diesem Montag wieder erlaubt. Unter strengen Sicherheitsvorkehrungen können kulturelle Veranstaltungen mit bis zu 100 Gästen im Freien und bis zu 50 in geschlossenen Räumen stattfinden. Was den Mundschutz betrifft, gelten in Kulturbetrieben strengere Regeln als in Gasthäusern: Im Theater oder Kino müssen die Masken nicht nur beim Betreten und Verlassen der Räumlichkeit sowie in den Sanitärbereichen getragen werden, sondern auch während der Vorführung im Zuschauerraum.

Klar ist: Wirtschaftlich rentabel ist der Spielbetrieb mit reduzierter Besucherzahl für die Bühnen "in keinster Weise", sagt Thomas Schwarzer vom Deutschen Bühnenverein in Ingolstadt. Deswegen hätten sich einige Theater entschlossen, in diesem Sommer gar nicht mehr zu öffnen - zum Beispiel die Theater in Bamberg, Coburg, Erlangen und Würzburg sowie viele private Theater. Die Komödie im Bayerischen Hof in München spielt "Schwiegermutter und andere Bosheiten" (eine Komödie in drei Akten) ab dem 29. Juli bis zum 6. September.

Andere Häuser setzen bis zum Ende der laufenden Spielzeit hauptsächlich auf Open-Air-Veranstaltungen. Gerade die Münchner Bühnen haben sich originelle Indoor-Konzepte ausgedacht. "Einmal König sein!" heißt beispielsweise eine Veranstaltungsreihe des Gärtnerplatztheaters München: Montags und dienstags haben jeweils maximal 16 Personen die Möglichkeit, aus den fünf Logen des Theaters ein etwa 25-minütiges, exklusives Programm der schönsten Stimmen zu erleben. Mittwochs bis samstags gibt es für jeweils maximal 50 Besucher die einmalige Möglichkeit, die Perspektive zu wechseln und das Gärtnerplatztheater "hinter dem Vorhang" zu erleben. "Die größte Herausforderung ist nicht, in drei Tagen sechs verschiedene Programme zu koordinieren, propagieren und zu verkaufen, sondern noch keine langfristigen Planungen durchführen zu können", sagt Gärtnerplatz-Intendant Josef E. Köpplinger.

Das Münchner Residenztheater hatte am Wochenende bereits auf Theaterparcours einen ersten Schnupperblick gewährt: ganz wie im Museum in Form eines Rundgangs, auf dem bestens vertraute Orte in ein theatrales Licht getaucht werden und sich manche Tür öffnet, die für das Publikum sonst verschlossen bleibt (noch mal am 20., 21. und 27. Juni). Ab sofort werden die Soloabende wiederaufgenommen, darunter vier neue Produktionen mit Luana Velis als "Fräulein Else", Niklas Mitteregger in "Faserland" nach dem Roman von Christian Kracht, Katja Jung in Ewald Palmetshofers "Körpergewicht. 17%" und "Das Ende von Eddy" nach dem Roman von Édouard Louis mit Vincent Glander. Am 18. und 28. Juni stehen "Die drei Musketiere" wieder auf dem Spielplan.

Die Münchner Kammerspiele starten an diesem Montag gleich mit zwei Uraufführungen: "Oracle" von Susanne Kennedy und Markus Selg öffnet die Pforten der Kammer 2. Der Einlass findet pro Person in Slots alle sechs Minuten statt. In Kammer 3 findet um 17.30 Uhr die Uraufführung von "WUNDE R" von Enis Maci in der Inszenierung von Felix Rothenhäusler statt. Um 21 Uhr folgt eine zweiten Vorstellung.

Viele Theater setzen aber auf ein Wiedersehen mit dem Publikum unter freiem Himmel. Das Staatstheater Nürnberg etwa wird in dieser Saison nicht mehr regulär auf den Bühnen spielen, prüft aber gerade alternative Programmangebote, die ab Ende Juni bis zur Sommerpause unter Berücksichtigung aller Sicherheitsmaßnahmen noch realisiert werden könnten. Bereits erfolgreich angelaufen ist eine persönliche Telefonaktion der Künstler für das Publikum. Unter dem Titel "Ohrtheater - Wir rufen Sie an!" gibt es montags bis freitags zwischen 10 Uhr und 14 Uhr künstlerische Beiträge frei Haus per Telefon. Dabei bieten die Mitglieder der Ensembles und des Orchesters Gedichtrezitationen, Lesungen, ausgewählte Lieder und Solo-Musikstücke an. In Planung sind noch geführte Audio-Walks mit Live-Elementen vom Schauspielhaus durch die Stadt, Wandel-Konzerte durchs Opernhaus mit Performances aller Sparten sowie eine kleine Freilichtbühne auf dem Theater-Vorplatz.

Das Staatstheater Augsburg rollt einen "Kunstrasen!" aus. Von 16. Juni bis 26. Juli bieten Künstler aller vier Sparten auf der idyllischen Wiese unter hohen Bäumen im Martini-Park ein buntes Programm: Arien und Songs aus Oper, Operette und Musical, ein Live-Hörspiel, ein Theaterquiz, Serenadenkonzerte, eine Musiktheaterinszenierung für die ganze Familie, Ballettvorstellungen, Lesungen für Erwachsene und Kinder und mehrere DJ-Formate. "Drei Monate ohne Live-Publikum waren schon eine ziemliche Dürreperiode für uns Theatermenschen", erklärt Augsburgs Intendant André Bücker. "Auch wenn wir die Zeit des Shutdowns mit unserer neuen Digitalsparte unglaublich kreativ und produktiv nutzen konnten, hätte ich mir doch einen früheren Start gewünscht. Nun freue ich mich aber umso mehr auf die Begegnungen mit unseren Zuschauern und laue Sommernächte beim Kunstrasen und bei unserer durchaus wörtlich zu nehmenden Musical-Gala ?The Show Must Go On' auf der Freilichtbühne." Die Digitalsparte des Staatstheaters Augsburg soll übrigens ein fester Bestandteil des Spielplans bleiben, auch das VR-Theater-Repertoire wird laufend erweitert.

Das Theater Regensburg hat ein Programm aus Schauspiel und verschiedenen Konzerten geschnürt, das ab Montag auf der Freilichtbühne im Thon-Dittmer-Palais zu erleben ist. Acht Programme bieten an 22 Vorstellungsterminen eine große Bandbreite. Ob schwungvoller Operettenabend mit Hits aus der "Fledermaus" oder dem "Vogelhändler", ob Goethes "Reineke Fuchs" als packendes Live-Hörspiel mit drei Schauspielern, ob "Peter und der Wolf" als Kinderkonzert: 100 Karten werden pro Vorstellung ausgegeben. Und bereits am ersten Vorverkaufstag hatten sich lange Schlangen bis über den Bismarckplatz gebildet. Regensburgs Intendant Jens Neundorff von Enzberg: "Ich freue mich total, dass es endlich wieder weitergeht. Vorerst zwar nur im Freien, mit Maskenpflicht  und ungewohnt großen Abständen, dafür aber herrlich direkt. Dennoch hoffe ich sehr auf die Rückkehr zu einem ,normalen' Spielbetrieb in unseren Räumen, auf ein Abflachen der Pandemie und entsprechend abnehmende Auflagen."

Auch das Landestheater Niederbayern begeht den Saisonabschluss unter freiem Himmel und meldet sich im Juli mit zwei Formaten zurück: Wolfgang Maria Bauer inszeniert A.R. Gurneys Zwei-Personen-Stück "Love Letters". Und Generalmusikdirektor Basil Coleman lädt zu einem musikalischen Picknick. Im Stil der 20er-Jahre geht es durch die Welt der Oper und der Operette. Gespielt wird im Landshuter Prantlgarten und auf der Veste Oberhaus in Passau. "Wir freuen uns unendlich, dass es jetzt wieder kreativ losgeht", sagt Intendant Stefan Tilch. "Und das Auskundschaften der ,neuen Bedingungen', unter denen wir jetzt wohl eine Weile arbeiten werden, wird sehr aufregend: Was werden wir dürfen, was nicht, und wie werden wir das, was zu erzählen ist, in diesem Gemenge kreativ auflösen? Dass das jetzt sofort beginnen muss, ist ja klar. Wir und unsere Gäste sind ausgehungert nach der direkten Begegnung, dem direkten Austausch. Keine Gelegenheit, die neuen Formen zu üben und damit umzugehen, sollte versäumt werden."

DK