München
Angst, Mobbing, Entlassungen

15.03.2016 | Stand 02.12.2020, 20:05 Uhr

Foto: DK

München (DK) Im Europäischen Patentamt in München eskaliert der Konflikt zwischen Präsident und
Mitarbeitern. Manche sprechen von Menschenrechtsverletzungen, von Überwachung wie durch die Stasi. Polizei und Staatsanwaltschaft dürfen aber nicht ermitteln, denn das Amt genießt Immunität. Heute könnte die Amtsleitung indes in Bedrängnis geraten.

Der entscheidende Satz steht in Artikel 8 des Europäischen Patentübereinkommens. Darin geregelt: die Immunität des Europäischen Patentamtes (EPA). Was genau unter diese Regelung fällt, ist an anderer Stelle festgehalten: "Die Behörden der Staaten, in denen die Organisation Räumlichkeiten hat, dürfen diese Räumlichkeiten nur mit Zustimmung des Präsidenten des Europäischen Patentamts betreten", steht dort unter anderem geschrieben. Das heißt im Klartext: Obwohl der Hauptsitz des Europäischen Patentamtes mitten in München an der Isar liegt, gelten hier keine deutschen Gesetze. Das Übereinkommen - ein von 38 europäischen Staaten ratifizierter, völkerrechtlicher Vertrag - legt fest, dass Polizei, Staatsanwaltschaft oder andere nationalstaatliche Organe dort keinen Zugriff haben. "Wenn der Rechtsschutz einer Organisation in den Verträgen festgelegt ist, kommen deutsche Gerichte da nicht hin", betont etwa der Arbeitsrechtler Sebastian Kolbe von der Katholischen Universität Eichstätt. Der frühere Verfassungsrichter Siegfried Broß sagt sogar, dass mit diesen Denkstrukturen Guantanamo auf deutschem Boden möglich wäre.

Für viele Mitarbeiter des Europäischen Patentamts ist diese Immunitätsregelung in den vergangenen Monaten zum Albtraum geworden. Denn in der Behörde tobt ein erbitterter Streit zwischen der Führung um Präsident Benoît Battistelli aus Frankreich und einem Großteil der Belegschaft. Auf den Rechtsweg vor nationale Gerichte kann die Belegschaft dabei aber nicht zählen. Unter den Angestellten herrsche Angst, ist von mehreren Mitarbeitern zu hören. Wörtlich zitieren lassen möchte sich wegen befürchteter Repressalien niemand. Einen Zusammenhang zwischen fünf Selbstmorden, die sich in den vergangenen vier Jahren unter den Mitarbeitern ereignet haben, und den Arbeitsumständen weist die Behörde entschieden zurück. Das Amt habe mit den betroffenen Familien sehr eng zusammengearbeitet, sagt ein EPA-Sprecher: "In keinem der Fälle konnte ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der Arbeit und der Tragödie hergestellt werden." Er sprach von einer Instrumentalisierung der Fälle.

Zwar sind die EPA-Beamten zum größten Teil Spitzenverdiener und genießen zudem einige steuerrechtliche Privilegien. "Aber wer kündigt oder rausfliegt, verliert alles", sagt eine Mitarbeiterin. Denn das Amt hat ein eigenes Sozialversicherungssystem und eigene Schulen. Eine Kündigung bedeutet, dass die Kinder von der Schule müssen, Arbeitslosengeld gibt es nicht - nicht einmal Hartz IV. Pensionsansprüche können gekürzt werden.

Der Konflikt wird mit harten Bandagen geführt. Unter anderem wurden in den vergangenen Monaten zwei Personalräte entlassen, die auch zur Führungsriege der hauseigenen Gewerkschaft Suepo gehören. Ein dritter wurde degradiert. Der Vorwurf: Sie sollen das Amt diffamiert und einen Kollegen im Personalrat gemobbt haben. "Es wurde ein individuelles, gravierendes Fehlverhalten festgestellt", heißt es aus der EPA-Pressestelle. Die Entlassungen seien das Ergebnis eines ordentlichen Disziplinarverfahrens und hätten nichts damit zu tun, dass die Betroffenen Personalräte waren.

Was nach deutschem Recht wegen des hohen arbeitsrechtlichen Schutzes von Personalvertretern beinahe ausgeschlossen ist, ist im EPA relativ problemlos möglich - der Rausschmiss eines Personalrats. Deren Stellung ist ohnehin kaum mit dem von deutschen Betriebsräten vergleichbar: Der Personalausschuss wird bei einigen Fragen zwar konsultiert und kann Empfehlungen abgeben, er hat aber laut Kodex des EPA keine bindenden Mitspracherechte.

Hintergrund der Auseinandersetzung sind Reformen, die der mit sehr weitreichenden Machtbefugnissen ausgestattete Battistelli nach seinem Amtsantritt im Jahr 2010 angestoßen hat und mit denen er die Patentprüfung effizienter gestalten will. Viele seiner Maßnahmen rufen Widerstand aus der Belegschaft hervor, sogar Menschenrechtsverletzungen werden beklagt.

Ein Stein des Anstoßes ist etwa eine neue Krankheitsregelung. Nach Angaben des Bundesjustizministeriums, das in der Bundesregierung für das EPA zuständig ist, beinhaltet diese, dass kranke Mitarbeiter zwischen 10 Uhr und 12 Uhr und zwischen 14 Uhr und 16 Uhr zu Hause sein müssen, was von der Behörde kontrolliert werden kann. Das EPA habe dies aber bisher auf absolute Ausnahmefälle beschränkt, sagte ein Ministeriumssprecher. Suepo stellt die Situation wesentlich gravierender dar. Kranke Mitarbeiter dürften die Wohnung nur für vorher angekündigte Arztbesuche verlassen - selbst wenn die Krankheit Wochen oder Monate dauere. Dem Amtsarzt müsse zudem Zugang zur Wohnung gewährt werden. Der Amtssprecher sagt dazu, das EPA sei eine internationale Organisation und könne sich daher nicht ausschließlich an der deutschen Praxis orientieren. In anderen Mitgliedsstaaten seien solche Regeln durchaus üblich. Ihr Ziel jedenfalls scheint die Reform zu erreichen: Der Krankenstand hat sich nach Behördenangaben seit der Einführung der Regelung "ganz erheblich reduziert".

Hinzu kommt aus Sicht der Suepo die im EPA berüchtigte "Investigative Unit", die von Mitarbeitern als "Schlimmer als die Stasi" bezeichnet wird. Laut einer internen Richtlinie sind Beschuldigte zur uneingeschränkten Zusammenarbeit mit der Ermittlungseinheit verpflichtet, ein Zeugnisverweigerungsrecht gibt es nicht. Die Ermittler haben das Recht, beim Verdacht auf eine Verfehlung Büros und Computer zu durchsuchen. Suepo spricht von "Polizeistaatsmethoden" und kritisiert, dass die Ermittler nur an den Präsidenten berichteten, der damit Gesetzgeber, Ankläger, Polizei und Richter in einer Person sei. Das Justizministerium hat Battistelli nach eigenen Angaben mehrfach aufgefordert, diese Richtlinien zu ändern - bisher ohne Erfolg. Vor allem das Selbstbelastungsgebot und das Verbot in der Voruntersuchung, einen Anwalt hinzuzuziehen, seien inakzeptabel. Das Patentamt wiederum gibt sich betont offen: Battistelli sei bereit, diese Richtlinien zu diskutieren. 2016 sei das Jahr der Konsolidierung und Bewertung der Reformen.

Die Einwirkungsmöglichkeiten der Suepo auf das Amt sind dabei allerdings begrenzt. Denn die Gewerkschaft wird vom EPA nicht als Verhandlungspartner anerkannt, obwohl sie nach eigenen Angaben fast die Hälfte der rund 7000 Mitarbeiter repräsentiert. Stattdessen verkündete die Patentbehörde Anfang März eine "bahnbrechende Vereinbarung" mit der Gewerkschaft FFPE-EPO. Präsident Battistelli sprach von einem "Meilenstein bei der Erneuerung des sozialen Dialogs". Die Gewerkschaft werde fortan formell als Sozialpartner anerkannt.

Die FFPE-EPO umfasse aber nur etwa 75 Mitarbeiter und sei auf den Standort Den Haag beschränkt, heißt es aus Suepo-Kreisen. Auf der Homepage der FFPE-EPO gab es zwischen der Gründung im Jahr 2008 und der Verkündung der Vertragsunterzeichnung vor einigen Tagen keinen einzigen Eintrag. Auf eine Anfrage reagierte die Gewerkschaft nicht. Das Patentamt betont allerdings, dass die kleine Gewerkschaft ein Ableger "einer der größten Gewerkschaften im Bereich europäischer öffentlicher Dienst" sei, und wertet die Vereinbarung daher durchaus als Beginn einer engeren Einbeziehung der Gewerkschaften.

Zugleich verkündete Benoît Battistelli in der Mitteilung, dass das von der FFPE-EPO unterzeichnete "Memorandum of Understanding" allen anderen Gewerkschaften im Europäischen Patentamt offenstehe. Eine Einladung, die die Suepo dankend abgelehnt hat, denn sie sieht in der Abmachung einen "Knebelvertrag".

Wie es weitergeht, ist derzeit unklar. Heute und morgen tagt der Verwaltungsrat, der aus Vertretern der 38 Mitgliedsstaaten besteht. Dieser stand bisher hinter dem Präsidenten, zuletzt gab es aber Anzeichen, dass die Rückendeckung bröckelt. So forderte der dänische Chef des Verwaltungsrats, Jesper Kongstad, Battistelli laut Medienberichten auf, das Betriebsklima zu verbessern und eine externe Prüfung der Maßnahmen gegen die drei Gewerkschaftsführer zu erlauben. So lange sollten die Disziplinarmaßnahmen aufgehoben werden. In einem im Internet kursierenden Brief Kongstads an die anderen Mitglieder des Verwaltungsrats beklagt dieser, dass ein ernsthafter Dialog mit Battistelli zuletzt nicht möglich gewesen sei, weil der ein Treffen vorzeitig verlassen habe. Auf die Frage, ob Battistelli noch der richtige Mann sei, antwortete der Sprecher des Justizministeriums ausweichend: "Es liegt auch im Interesse des Präsidenten Herrn Battistelli, den sozialen Frieden im EPA wiederherzustellen. Dazu ist die deutsche Seite mit ihm im regelmäßigen Dialog."

Sollte der Präsident einer Überprüfung der Kündigungen nicht zustimmen, bleibt den Suepo-Führern noch der Schritt vor die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) in Genf. Bis es dort zu einer Entscheidung kommt, könnten aber Jahre vergehen. Die Belegschaft des Patentamtes aber scheint zur Fortführung des Kampfes entschlossen. Vorige Woche votierten 91 Prozent von mehr als 4000 teilnehmenden Mitarbeitern für einen Streik. Zuvor sollen aber die Entscheidungen der Verwaltungsratssitzung abgewartet werden.