Ingolstadt
Achtung, Farbe!

MKK zeigt sensationelle Ausstellung von Carlos Cruz-Diez

18.03.2018 | Stand 02.12.2020, 16:41 Uhr

−Foto: Claus Woelke

Ingolstadt (DK) Ein visuelles Abenteuer ist die neue, sensationelle Ausstellung im Museum für Konkrete Kunst. Carlos Cruz-Diez zeigt in Ingolstadt seine erste Schau in Deutschland nach 30 Jahren. Und da geraten nicht nur Farben, sondern auch die Besucher in Bewegung.

Ingolstadt (DK) „Bitte nicht berühren!“ Das kennt man aus vielen Kunsttempeln. Derzeit stehen aber auch vor dem Museum für Konkrete Kunst (MKK) zwei Schilder: „Achtung, das ist Kunst“, werden die Fußgänger gewarnt. Will heißen, dass der farbige „Crosswalk“ des Künstlers Carlos Cruz-Diez (kleines Foto, Glaubitz/dpa) über die Tränktorstraße nicht mit einem Zebrastreifen zu verwechseln ist – auch wenn er genauso funktioniert. Viele Autos bremsen ab. Im Museum dann das nächste Schild vor dem White Cube im ersten Obergeschoss. Hier wird auf die stroboskopischen Effekte hingewiesen, „die unter Umständen epileptische Anfälle auslösen können“. Und selbst ohne weitere Schilder heißt die Devise in der neuen, sensationellen Ausstellung: Vorsicht Farbe! Trauen Sie ihren Augen und ihren Sinnen nicht! Der Altmeister der Op-Art („Optical Art“) hat das Museum in einen Farbenrausch versetzt, spielt mit Licht und Wahrnehmungsphänomenen, lässt Besucher vor den Werken ungläubig hin und her gehen. Da tauchen Regenbogenfarben auf, wo nur wenige Farben gesetzt sind. Da schimmern gestaffelte Farbreihen, beim Schritt nach rechts oder links sind es fünf, farbig einheitliche Felder. Da gibt es Linien und Streifenformationen, feine Lamellen und Papier, Aluminium und Plexiglas. Op-Art vom Feinsten ist das, was der 94-Jährige von der Seine an die Donau transportieren ließ – und manches eigens für die Überblicksausstellung „Color in Motion“ in Ingolstadt geschaffen hat, wie das knallbunte Labyrinth oder die drei mal sechs Meter große Wandarbeit.



Am Samstagabend wurde die Ausstellung des Franco-Venezolaners – einem der wichtigsten Vertreter der optischen und der kinetischen Kunst – in Anwesenheit von Hunderten Besuchern eröffnet. Riesenandrang bei „Art and Beat“ – einem beliebten Veranstaltungsformat für Vernissagen des Museums, der Stiftung für Konkrete Kunst und Design und Audi Art Experience – mit Führungen, Aktionen, Musik der Jazzrausch Bigband, Foodtruck und Bar: ein wunderbarer Rahmen, eine gelungene Eröffnung für eine Ausstellung, die – wie bereits im Vorfeld – bis 16. September auch auf großes überregionales und internationales Interesse stoßen wird. Und eine Schau, die sich nahtlos in die Reihe der bemerkenswerten und fabelhaften Ausstellungen von Direktorin Simone Schimpf und dem Team des MKK – „Neon“, „Out of Office“, „Logo“ oder „Funke Fengel“ – einreiht und diese mit Cruz-Diez auf ganz besondere Weise krönt. Oberbürgermeister Christian Lösel (CSU) äußerte sich begeistert über die große Zahl an Besuchern der Vernissage, darunter auch die Tochter des Künstlers, Adriana Cruz, und der Schriftsteller Eugen Gomringer, dessen Sammlung die Stadt Anfang der 80er-Jahre angekauft hatte und die der Grundstock für das Museum für Konkrete Kunst war. Das Museum sei seit seiner Gründung 1992 ein „kultureller Leuchtturm der Region“ geworden, so Lösel, und habe sich einen „hervorragenden Ruf“ erworben. Das neue Museum auf dem Gießereigelände, das Ende 2019 eröffnet werden solle, sei ein „weiterer Meilenstein“ für die Stadt. Denn auch als Wirtschaftsstandort müsse die Kultur vorangetrieben werden, müsse Ingolstadt „als Kulturstandort an Bedeutung gewinnen“. Melanie Goldmann, Leiterin der Abteilung Kommunikation und Trends bei Audi, beschrieb, wie Licht und Farbe Leben und Gefühl bestimmen. Die Ausstellung ist außerdem am 18. Juli Veranstaltungsort bei den Sommerkonzerten.

Museumsdirektorin Simone Schimpf sagte, dass man „sehr stolz“ darauf sei – dass es eine „große Freude“ sei –, dass Carlos Cruz-Diez nach drei Jahrzehnten Absenz in Deutschland nun just in Ingolstadt ausstelle. Sie würdigte ihn „als Wissenschaftler, als Tüftler, als Handwerker, als Designer und als Visionär“. Sie dankte auch dem Freundeskreis des Museums – der heuer sein 30-jähriges Bestehen feiert. Ohne dessen Finanzierung hätte es den „Crosswalk“, eine Premiere in Deutschland, nicht gegeben. – Was höchst bedauerlich gewesen wäre. Denn die großen Bodenarbeiten sind so etwas wie Cruz-Diez’ künstlerisches Markenzeichen im urbanen Raum. 1975 installierte er seine ersten Streifen auf Asphalt in Caracas. Weitere folgten: von Marseille bis Miami. Wichtig ist Cruz-Diez nicht nur die Vermittlung seiner Kunst, sondern auch, dass Kunst nicht nur in Museen und Galerien zu finden ist, sondern buchstäblich auf der Straße.

Im Mittelpunkt der unermüdlichen Arbeit von Carlos Cruz-Diez, der im hohen Alter immer noch in seinem Atelier mit mehr als 20 Mitarbeitern tätig ist, steht die Wirkung von Farbe durch Bewegung, Licht und optische Effekte. Farbe will Cruz-Diez – der an der Hochschule für Bildende Kunst in seiner Heimatstadt Caracas studierte, dann erst als Werbegrafiker und Illustrator arbeitete und Anfang der 60er-Jahre nach Paris umzog – als eigenständige Wirklichkeit betrachtet wissen. Zeitlebens experimentierte er, sieht sich selbst als Farbforscher, dessen entscheidende Lektüre einst auch die Farbenlehre Johann Wolfgang von Goethes gewesen ist.

Die Ausstellung, die zusätzlich Werke von Jesús Rafael Soto und Ludwig Wilding zeigt, ist in mehrere Abteilungen gegliedert, sämtliche Schaffensphasen und Prinzipien Cruz-Diez’ werden erlebbar. Etwa „Couleur Additive“, wenn das Gehirn beim Anblick von zwei aufeinadertreffenden Farben eine dritte addiert. Es ergeben sich Farbflächen, die real auf der Leinwand nicht existieren. Oder „Induction Chromatique“: Hier geht es um sogenannte Nachbilder. Wenn man länger auf ein farbiges Objekt blickt und danach auf eine weiße Fläche, erzeugt das menschliche Auge die Komplementärfarbe. Oder die „Physichromie“: Durch lichtdurchlässige Lamellen und Metallschienen, die mit Papierstreifen beklebt wurden, ergeben sich mit Entfernung und Bewegung des Betrachters unterschiedliche Variationen desselben Kunstwerks. Optische Täuschung in Perfektion.

Die radikalste Umsetzung der Idee von Farbe als Energie, des Gedankens, dass Farbe in Bewegung ist und keinen Träger braucht, ist Cruz-Diez in seinem hoch technisierten Lichtraum, dem „Environnement Chromointerférent“, gelungen. Mit Beamern werden Farbstreifen auf Wände, Objekte und die Besucher projiziert, die Teil des Kunstwerks werden. Die Leidenschaft des Op-Art-Meisters für Farbe und Licht kommt nicht von ungefähr. Als Kind war er, erzählt Kuratorin Theres Rohde, oft in der Sodafabrik seines Vaters. Dort reflektierte die Sonne durch die vielen farbigen Flaschen und tauchte den ganzen Raum – die Wände, den Boden, die Kleidung der Angestellten und die Luft – in Farbe. Carlos Cruz-Diez sagt über sich, dass er die Farbe im Kopf habe wie andere Musik im Ohr. Dem Besucher geht es nach dem Rundgang durch die Ausstellung „Color in Motion“ im MKK ähnlich: Farbe. Farbe. Farbe.

Color in Motion, bis 16. September, Di bis So von 10 bis 17 Uhr. Karfreitag geschlossen. Weitere Infos unter www.mkk-ingolstadt.de.