Weigersdorf
1000 Stockschläge und "Krummgeschlossen"

21.03.2018 | Stand 02.12.2020, 16:40 Uhr

−Foto: Göpfert-Nieberle

Weigersdorf (EK) Weil er sich gegen die Tyrannei und die Willkürherrschaft der Nationalsozialisten trotz aller Gefahren für sich und seine Familie zur Wehr setzte, kam Josef Nieberle aus Weigersdorf am 11. Oktober 1935 in das Konzentrationslager in Dachau. Ein Jahr und über zwei Monate dauerte sein Martyrium im KZ. An diesem Donnerstag wird seine Biografie dem "Gedächtnisbuch", einer Sammlung von Biografien ehemaliger Häftlinge des Konzentrationslagers Dachau, hinzugefügt.

Acht Millionen Menschen haben zwischen 1933 und 1945 in deutschen Konzentrationslagern unfassbar gelitten, viele haben das Martyrium nicht überlebt. Allein in Dachau, dem ersten durchgehend betriebenen und damit einem der bekanntesten Konzentrationslager waren in den zwölf Jahren des Bestehens mindestens 200 000 Menschen interniert. Mehr als 40 000 von ihnen starben. Einer von ihnen hat überlebt. Josef Nieberle.

Der Bauer aus Weigersdorf war ein unbeugsamer Gegner der Nationalsozialisten, dessen Einstellung selbst durch mehrmalige Gefängnisaufenthalte und selbst durch die Martern in Dachau nicht gebrochen werden konnte. Seine konservativ-christlich-katholische Prägung bewahrte er sich auch nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus und beim Wiederaufbau.

Nieberle muss ein ungewöhnlicher Mann gewesen sein, wie es in der jetzt neu verfassten Biografie für das „Gedächtnisbuch“ heißt: „tief religiös, aufrechter Gang mit einem überzeugenden und sicheren Auftreten. Er wird als sehr wahrheitsliebend, gradlinig und gewinnend geschildert. Unterschiede im Umgang mit den Menschen kannte er nicht, jeden behandelte er gleich. Die Menschen suchten seinen Rat und schätzten seine Führungsqualitäten. Seine gute Menschenkenntnis sicherte ihm zahlreiche Freundschaften. Unter den Dorfbewohnern war er nicht nur als Bürgermeister und Bauernführer beliebt.“

Der am 12. April 1883 geborene Franz Josef Nieberle war der erstgeborene Sohn und damit Hoferbe des in siebter Generation betriebenen „Klausenhofes“ in unmittelbarer Nachbarschaft zur Kirche in Weigersdorf. Dort wuchs er mit vier Brüdern und vier Schwestern auf, besuchte die Volksschule und wollte eigentlich Rechtsanwalt werden. Doch der frühe Tod des Vaters 1899 zwang ihn, in die Fußstapfen als Hoferbe zu treten. 1908 heiratete er Walburga Maile; zwölf Kinder wurden ihnen zwischen 1909 und 1925 geschenkt, von denen sieben Töchter und ein Sohn überlebten. Als Infanterist nahm er am Ersten Weltkrieg teil.

Schon während seiner Jugendzeit war er politisch interessiert. Doch zunächst wandte er sich seinem Berufsstand zu. Er engagierte sich im „Christlichen Bauernverein“, einer weltanschaulich stark konservativ geprägten Organisation des bäuerlichen Berufsstandes. 1928 wurde er zum Vorsitzenden des mittelfränkischen Teilverbandes berufen. Daneben war Josef Nieberle auch kommunalpolitisch engagiert: als Bürgermeister von Weigersdorf von 1919 bis 1933 und vom Ende der 20er-Jahre an als Vorsitzender und Sprecher der Bürgermeister im Landkreis. Ab 1919 war er zugleich Vorsitzender der Bayerischen Volkspartei (BVP) im Kreis Eichstätt und arbeitete eng mit dem Eichstätter Priester Dompropst Georg Wohlmuth zusammen, der von 1912 bis 1933 Mitglied des bayerischen Landtags und ein entschiedener Gegner der Rassenideologie Hitlers war.

Josef Nieberle hatte sich intensiv mit dem Nationalsozialismus auseinandergesetzt. Er las Hitlers „Mein Kampf“, besuchte Wahlversammlungen und versuchte mit den Anhängern der NSDAP zu diskutieren. Er sammelte systematisch Informationen über die Ziele und Auftritte „der Hitler“, wie die Anhänger Hitlers damals genannt wurden. Die Ideologie der Nazis widersprach seiner katholisch geprägten Überzeugung, ihm war klar, was es bedeutet, wenn diese Partei an die Macht kommt. Offensichtlich war Nieberle und sein Auftreten so überzeugend, dass ihm zugehört wurde; er konnte Menschen zum Nachdenken anregen. Bei über 40 Aufklärungsveranstaltungen im Wahlkampf konnte Nieberle viele Menschen überzeugen, die NSDAP nicht zu wählen. Die NSDAP hatte im Eichstätter Gebiet von 1930 bis 1933 den niedrigsten Prozentsatz an NS-Wählern von allen mittelfränkischen Verwaltungsbezirken.

Im Juli 1932 fand in Weigersdorf vor dem „Klausenhof“ der Familie in der Ortsmitte die erste Nazikundgebung unter freiem Himmel statt. Alle Dorfbewohner hatten beschlossen, diese Versammlung zu boykottieren und als Zeichen dafür sämtliche Lichter abzuschalten. Die Veranstaltung ging dann im Dunkeln über die Bühne – mit Teilnehmern, die die Veranstalter hergekarrt hatten.

Josef Nieberle hielt Hitler für den größten Verbrecher des 20. Jahrhunderts und war überzeugt, dass dieser einen neuen Krieg planen würde. Mit Entsetzen erlebte die Familie die Machtübernahme Adolf Hitlers und der NSDAP am 30. Januar 1933. Bürgermeister Nieberle geriet denn auch ins Visier der neuen Machthaber. Am 5. März 1933 wurden zwei politische Kommissare in Eichstätt eingesetzt, die die sofortige Absetzung des Bürgermeisters verlangten. Am 16. Mai 1933 überfielen Nazi-Horden aus den umliegenden Orten den „Klausenhof“. Nieberle selbst schreibt darüber:

„Um 9 3/4 Uhr (abends) sind einige hundert Nazisozis im Sturm auf das Anwesen des Nieberle losgegangen und haben ihn überfallen. Sie brüllen und schreien nach wilder Bestienart, so daß man es sehr gut in den Nachbarorten hört. An Fenstern, Türen, Läden wurde geschlagen und gebrüllt ‚Heraus schwarzer Lump, erschlagen tun wir dich, hin mußt sein’ u. a. m.“

Etwa 400 SA-Mitglieder bereiteten der Familie ein Schreckenszenario: Die Kinder, die schon in ihren Betten waren, irrten im Flur herum, als die Haustür eingedrückt wurde. Die Großmutter versuchte, sich den Horden entgegenzustellen. Die Mutter erlitt einen Herzanfall und rang mit dem Tode. Mit Mühe gelang es, den Hausarzt Dr. Müller ins Haus zu holen. Josef Nieberle kam per Haftbefehl nach Eichstätt in das Gefängnis, die Haft dauerte bis zum 7. Juli 1933, dem Zeitpunkt der Auflösung der BVP. Nach seiner Entlassung versuchte die Kreisleitung der NSDAP, Nieberle für die Partei zu gewinnen. Er lehnte ab und teilte mit, dass er als „einfacher Staatsbürger leben und so seine vaterländischen Pflichten erfüllen wolle.“

Am 4. Juni 1934 wurde er zum zweiten Mal verhaftet, am 4. Juli 1934 wieder entlassen. Zu Hause versuchten die Eltern, ihre Kinder in ihrem Sinne zu erziehen und ihnen in der Familie Halt zu geben und ihre Außenseiterposition zu ertragen. Als Nieberle mit vertrauten Freunden über den Hirtenbrief der deutschen Bischöfe von 1935 sprach, kam es zur dritten Verhaftung am 5. September 1935. Am 11. Oktober 1935 wurde er im Bahnhof Eichstätt in einen Waggon verladen und kam nach Dachau. Zwei Tage später, am 13. Oktober 1935, schreibt er seinen ersten Brief aus dem Konzentrationslager an seine Familie:

„Meine Liebsten Daheim! Ich bin gesund hier angekommen. Jedoch ohne Pfenniggeld, ich bitte Dich, schicke mir sofort 15 Mark, dann in 8 Tagen wieder etwa 10 Mark [...] Liebe Mama und Kinder, macht euch um mich keine Sorgen, ich bin gesund und bin als alter Soldat Ordnung gewöhnt, tut ihr eure Pflicht, dann wird der liebe Gott alles zum besten lenken. Seid fröhlich liebe Kinder und folgt der Mutter und der Vefi recht gerne. Laßt euch auf Kirchweih alles recht gut schmecken, wie ich es auch mache, wenn ich bis dahin Geld erhalte. Für diesmal solle es genug sein und ich grüße Euch alle recht herzlich, besonders auch den Josef, den seine Adresse bitte ich mir mitzuteilen. Stets denke ich an euch alle euer treu besorgter Vater.“

Über die tatsächlichen Verhältnisse und Ereignisse durfte er nicht schreiben. Wie es ihm wirklich erging, darüber gab er 1946 gegenüber der amerikanischen Militärherrschaft Auskunft:

„(...) daß ich gleich am ersten Tag, den ich im Lager verbrachte, gleich der Prügelstrafe von 100 Stockschlägen, ausgeführt von 4 SS-Posten, unterzogen wurde. Auf diese Maßnahme hin konnte ich mehrere Tage nicht mehr gehen und mehr als einen Monat nicht mehr sitzen und liegen, musste aber trotzdem eine der schwersten Arbeiten in der Kiesgrube verrichten. Auf die von der Kreisleitung Eichstätt übersandten Berichte waren auch die Sonderstrafen, die über mich verhängt wurden, zurück zu führen. So wurde ich zum Beispiel 12 Stunden ‚Krummgeschlossen’. Die Folge war, dass ich mehrere Wochen nicht mehr alleine essen und nicht mehr aufrecht gehen konnte. (...) Was ich in den folgenden fünf Monaten körperlich und seelisch ertragen musste, kann wohl niemand fassen, der nicht selber Gleiches litt.“

Nieberle machte sich große Sorgen um seine Familie, sein Sohn Josef war zum Reichsarbeitsdienst abberufen worden, er hatte Angst, dass seine Frau unter den erdrückenden Aufgaben und der psychischen Belastung zusammenbrechen könnte. In diesen schweren Stunden fand er Halt in den Gebeten des Kreuzweges Christi, eine Übung, die ihm von Jugend an vertraut war.

Durch die Kontakte und Eingaben seines Freundes Dr. Alois Hundhammer, von Staatssekretär Hofmann und dem Eichstätter Bischof Konrad von Preysing wurde Josef Nieberle am 21. Dezember 1936 unter Auflagen freigelassen. Das ganze Dorf bereitete ihm einen überaus herzlichen Empfang. Sein Ansehen in der Dorfgemeinschaft, das wegen seiner Hilfsbereitschaft vorher schon groß war, stieg: Vor allem sonntags standen die Menschen Schlange vor seiner Amtsstube, um Josef Nieberle ihre persönlichen Sorgen zu erzählen und um Rat und menschliche Hilfe zu erhalten.

Josef Nieberle blieb zwar bis Kriegsende größtenteils unbehelligt, in kritischen Zeiten tauchte er aber vorsichtshalber unter, vor allem, wenn die Gestapo aus Sicherheitsgründen Massenverhaftungen vornahm, zum Beispiel bei Volksabstimmungen, Aufdeckung von Verschwörergruppen oder auch nach dem Attentatsversuch am 20. Juli 1944. Meistens verbarg er sich in einem verschwiegenen Kloster wie Kloster Metten oder einem Kapuzinerkloster. Als 1945 amerikanische Fahrzeuge nach Weigersdorf kamen und Höfe besetzten, zog Josef Nieberle seinen Entlassungsschein aus dem KZ Dachau hervor. Er und seine Familie konnten endlich wieder aufatmen. Für sie bedeuteten das Ende des Krieges und die Kapitulation Deutschlands Freiheit.

Die amerikanische Militärregierung setzte ihn am 23. Juni 1945 wieder als Bürgermeister der Gemeinde Weigersdorf ein. Als am 7. September 1945 der Bayerische Bauernverband in München gegründet wurde, war Josef Nieberle eines der 22 Gründungsmitglieder. Die Vorbereitungen fanden zum Teil in der Amtsstube auf dem Klausenhof des Bauern Nieberle statt. Nieberle gehörte auch zu den Mitbegründern der CSU. Josef Nieberle empfand es als Gnade, dass ihm die sichere Erkenntnis darüber gegeben war, welchen Verlauf die Hitler-Bewegung nehmen würde. Als gläubiger Katholik hatte er Mitleid mit den Menschen, die ihn und andere denunziert und geschunden hatten. Rachegefühle waren ihm fremd, er forderte auch keine Vergeltung. Er wunderte sich nur darüber, dass er als einfacher Bauer ohne akademische Bildung sehr früh erkannte, wohin der Nationalsozialismus führen würde, während hochgebildete Menschen Hitler hoffierten.

Nieberle starb am 27. März 1948 auf dem Klausenhof. Zu seiner letzten Ruhestätte auf den Friedhof in Weigersdorf, der neben dem Klausenhof liegt, begleiteten ihn über 3000 Menschen. Seine Tochter Wenefrieda Ablassmeier-Nieberle übernahm den Klausenhof, nach ihr ihre Tochter Katharina Nieberle-Göpfert. Für die Nachkommen hat der Widerstand ihres Großvaters bis heute eine große Bedeutung.

In dem Bericht werden die Biografien der Schülerinnen der Theresia-Gerhardinger-Realschule Weichs sowie von Anton Strobel (Enkel von Josef Nieberle) und eigene Recherchen verwendet.

Projekt

Das „Gedächtnisbuch“ ist eine stetig wachsende Sammlung von Biografien ehemaliger Häftlinge des Konzentrationslagers Dachau. Die Verfasser sind ehrenamtliche Projektteilnehmer: Sie gehen auf Spurensuche und tragen Dokumente und Bilder zusammen. Anhand von Informationen aus verschiedenen Quellen, Literatur über historische Ereignisse und Erinnerungen von Überlebenden oder Angehörigen fügen sie ein Puzzleteil zum anderen. „Namen statt Nummer“ heißt das Projekt, in dem bereits 120 Lebensbeschreibungen gesammelt sind. Die Aufnahme der Biografie Nieberles in das „Gedächtnisbuch“ findet heute, Donnerstag, um 19.30 Uhr in der Kirche im Karmel Heilig Blut, Alte Römerstraße 91, 85221 Dachau, statt. hr