"Beispiellose Verantwortungslosigkeit"

Zur Machtübernahme der Bolschewisten und Nationalsozialisten vor 95 und 80 Jahren

11.11.2012 | Stand 03.12.2020, 0:51 Uhr

Eichstätt (EK) Am 7. November jährte sich der Jahrestag der Oktoberrevolution der Bolschewisten in Russland zum 95. Mal. Die Nationalsozialistische Machtübernahme wird am 30. Januar 2013 genau vor 80 Jahren passiert sein. Diese beiden Jahrestage sind für das Eichstätter Zentralinstitut für Mittel- und Osteuropastudien (Zimos) Anlass, sich der Entstehung dieser beiden totalitären Utopien im Rahmen einer Ringvorlesung zu widmen.

Warum konnte sich diese totalitäre Doppelrevolution des 20. Jahrhunderts ereignen? Eine Frage, die heute immer noch die Menschen beschäftigt. Das zeigte das rege Interesse am Vortrag von Professor Leonid Luks, Direktor des Zimos, den er zum Thema hielt.

Professor Leonid Luks glaubt nicht an den Determinismus in der Geschichte. „Ich glaube an die Willensfreiheit der Menschen. Bis zuletzt war es möglich, die nationalsozialistische als auch die bolschewistische Diktatur zu verhindern.“ Die beiden totalitären Regime des 20. Jahrhunderts in Deutschland und in Russland sind für Luks die Folge eines europäischen Phänomens: der tiefen Wertekrise der nicht wehrhaften Demokratien. Eben jene Wertekrise habe dazu geführt, dass die beiden bestehenden Systeme wie gelähmt auf den Siegeszug dieser totalitären Verächter der Demokratie reagierten.

Als Beispiel führte Luks an, dass im Oktober 1917 in Russland ein einziges regierungstreues Regiment genügt hätte, um die kommunistischen Revolutionäre aufzuhalten. Zudem seien Soldaten in der Nähe von Petrograd (heute Petersburg) stationiert, aber nicht mobilisierbar gewesen.

Eine ähnliche Entwicklung lasse sich auch in Deutschland 1933 beobachten. Hier habe eine sogenannte Machtergreifung nie stattgefunden. Reichspräsident Paul von Hindenburg habe die Macht an Adolf Hitler übergeben.

Diese Tatsachen sind für Luks Belege einer „beispiellosen Verantwortungslosigkeit der herrschenden Eliten“. Erklärbar sind sie für den Eichstätter Professor durch die Sehnsucht nach Einheit: „Sowohl in Russland als auch in Deutschland gab es sehr lange den starken Wunsch, die innere Spaltung der Nation zu überwinden.“

So war Russland etwa seit den Reformen des Zaren Peter der Große in eine europäisierte Oberschicht und eine bäuerliche Unterschicht geteilt. „Eine der wichtigsten Folgen der Revolution von 1917 ist die Überwindung dieser Spaltung“, sagt Luks.

Auch Deutschland sei eine klassisch gespaltene Nation gewesen. Als Belege hierfür zog Luks etwa die Reformation oder die bis 1871 prägende deutsche Kleinstädterei heran. Zwar habe das Zweite Deutsche Kaiserreich einen einheitlichen Staat geschaffen, eine organische Einheit aber sei nicht entstanden. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs 1914 sei jedoch eine euphorische nationale Stimmung, die alle Gräben zu überwinden schien, vorhanden gewesen. Nach der Niederlage sei die Erinnerung an diese Stimmung vor allem bei den nationalistischen Kräften im Land stark geblieben, die seitdem das Ziel verfolgten, eine deutsche Volksgemeinschaft entstehen zu lassen.

Eine sehr komplexe Frage ist für Leonid Luks die Erinnerungskultur der Oktoberrevolution im heutigen Russland. Mit dem Stalinistischen Regime hatte sehr früh Nikita Chruschtschow auf dem 20. Parteitag der KPdSU abgerechnet. Die Leninistische Zeit aber blieb weiterhin unangetastet und verklärt. Aktuell beobachtet Luks in Russland eine Zerrissenheit: „Es gibt Kräfte, die sich nach der kommunistischen Zeit zurücksehnen, es gibt Nationalisten, die das alte ‚Mütterchen Russland' wiedererrichten wollen, und natürlich gibt es auch demokratische Kräfte. Das Land bleibt gespalten.“

Das sogenannte „kurze 20. Jahrhundert“, das mit dem Siegeszug totalitärer Regime begonnen hatte, endete mit ihrem Scheitern. Für Professor Luks brachte diese totalitäre Doppelrevolution eine radikale Neuerung: „Sie zeigte, dass der Sturz in die Barbarei von jeder Höhe möglich, dass keine Nation dagegen gefeit ist.“

Entscheidend für Luks ist die Tatsache, dass die erste russische und die erste deutsche Demokratie nicht an der Stärke ihrer totalitären Gegner zerbrachen, sondern an ihrer eigenen Willensschwäche.