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Michael Stich: Familie ist wichtiger als der Sport

Verdammt lange her. Ehemalige Sportgrößen erinnern sich: Heute mit Tennis-Legende Michael Stich

26.12.2011 | Stand 03.12.2020, 2:00 Uhr

Es ist das erste deutsch-deutsche Endspiel der Grand-Slam-Geschichte. Der 7. Juli 1991 geht aber auch deshalb in die Geschichte ein, weil nicht der große Favorit Boris Becker gewann, sondern sein Herausforderer Michael Stich. Becker, der Wimbledon „sein Wohnzimmer“ nennt, hat bereits drei Mal dort gesiegt. Jeder erwartet, dass Becker ein viertes Mal triumphiert. Doch Stich spielt überragend und gewinnt mit 6:4, 7:6, 6:4. Die Zuschauer sind überrascht. Wie auch der Schiedsrichter, der „Game, Set and Match Becker“ nach dem Sieg Stichs ins Mikrofon spricht. Michael Stich hat damit Geschichte geschrieben. Doch er glaubt, dass er noch mehr hätte erreichen können in seiner Karriere, wenn er sich nur auf Tennis konzentriert hätte.

Herr Stich, 1997 haben Sie ihre Profikarriere beendet. Heute widmen sie sich vielen anderen Dingen. Gibt es einen Moment in ihrer Laufbahn, an den Sie sich häufig erinnern?

Michael Stich: Nein, so genannte ‚Flash backs‘ habe ich nicht. Aber klar, ein paar markante Dinge tauchen immer mal wieder auf. Wenn man beispielsweise an bestimmten Orten wie in Wimbledon oder Hamburg ist, erinnere ich mich schon, wie das alles zu meiner Zeit war. Oder wenn ich auf die schwere Fußverletzung angesprochen werde und Videos dazu im Fernsehen oder Internet sehe.

Haben Sie Ihre Entscheidung, Tennisprofi zu werden, jemals bereut?

Stich: Nein, überhaupt nicht. Ich bin da ja damals praktisch reingefallen. Es war nie ein Ziel. Es ist einfach passiert, und dafür bin ich extrem dankbar. Es hat mir viele Dinge ermöglicht, obwohl es auch seine negativen Seiten hatte. In der Zeit, wo andere ihren Lebensweg planen und vorbereiten, hatte ich meine erste Karriere praktisch schon hinter mir und für andere Dinge keine Zeit.

Würden Sie rückblickend heute andere Entscheidungen treffen als damals?

Stich: Das hat jetzt zwar wieder den sportlichen Erfolg als Hintergrund, aber ich weiß beispielsweise, dass ich in der Lage gewesen wäre, den Grand Slam als solches zu gewinnen. Das habe ich aber aufgrund der Persönlichkeit, die ich damals war, nicht getan, weil ich mich auch mit anderen Dingen beschäftigt habe. Wenn ich die Uhr noch mal zurückdrehen könnte, würde ich das eine oder andere jetzt beiseite stellen, um mich auf dieses eine Ziel zu konzentrieren, um Erfolg zu haben. Wenn dies allerdings bedeuten würde, dass ich mich dadurch als Mensch verändern müsste, würde ich das nicht tun. Ich vermute, man kann das eine gar nicht von dem anderen trennen. Mit dem Menschen, der ich bin, bin ich auf jeden Fall sehr zufrieden und sehr glücklich. Und damit muss ich ja auch noch die nächsten 40 Jahre leben.

Waren das eher private Dinge, die Sie den einen oder anderen Weg haben einschlagen lassen?

Stich: Ich wollte nicht morgens um acht mit dem Gedanken an Tennis aufstehen und mit dem gleichen abends um acht wieder schlafen gehen. Sich mal mit anderen Dingen zu beschäftigen, war mir wichtig. Nicht nur mit dem Sportteil der Zeitungen, sondern auch mit zeitpolitischen Themen. Sich um Freunde und Menschen kümmern, mal ein Buch lesen, wenn man keine Lust auf Tennis hat und sich nicht wohl fühlt. Und auch private Dinge in den Vordergrund stellen. Denn Familie ist am Ende wichtiger als der Sport. Andere Spieler haben das anders gemacht und waren erfolgreicher. Jeder muss für sich selbst herausfinden, was für ihn das Beste ist.

Was macht den Unterschied zwischen der Weltspitze von heute und damals aus?

Stich: Ich glaube, die Unterschiede sind nicht so groß. Die Spieler sind zwar fitter und athletischer als früher. Und das Material hat sich minimal verändert, aber ansonsten ist nicht viel passiert. Pete Sampras könnte heute genauso die Nummer eins sein wie zu unserer Zeit.

Könnten Sie im richtigen Alter mit Ihren spielerischen Fähigkeiten heute noch in der Weltspitze mitmischen?

Stich: Absolut. Das Körperliche ausgenommen, hätte ich zu meiner besten Zeit heute keine Angst, da mitzuspielen. Ich glaube, ich habe eine Spielweise, die vielen nicht entgegenkommen würde. Ich hätte auch keine Angst gehabt, mich einem Federer oder Nadal zu stellen. Das hätte mir eher sehr viel Spaß gemacht, weil das ja genau der Reiz ist. Das hätte immer ausgeglichen sein können.

Heute wirkt auf der Tour vieles aalglatt. Vermissen Sie die Spielertypen, die auch mal den Schiedsrichter beschimpfen?

Stich: Die ATP gibt diese Benimm-Regeln vor. Ich finde sie nur bis zu einem gewissen Grad gut. Man darf die Persönlichkeit des Spielers nicht zu sehr beschneiden. Was würden wir alle vom Tennis denken, wenn wir den Spruch von McEnroe: ‚You cannot be serious‘ nicht hätten? Es würde uns in der Geschichte unseres Sports unglaublich viel fehlen. Das waren die Persönlichkeiten und auch Kontraste. Boris war sehr emotional, Ivanisevic war irgendwie durchgeknallt. Dagegen hat Edberg nie etwas gesagt. Es gab alles. Heute sind alle sehr mainstream, so als würden sie sich alle mögen. Das hilft dem Konkurrenzkampf nicht unbedingt. Mir fehlen Freude, Ärger, Trauer und Wut auf dem Platz. Und ich vermisse auch das klassische Hemd mit Kragen. Das gehört einfach dazu, nicht das Muskel-Shirt.

Mit Florian Mayer steht derzeit nur ein deutscher Spieler unter den Top 30. Der Rest tummelt sich zwischen 50 und 100. Den deutschen Herren wird häufig vorgeworfen, sich nicht ausreichend für den Erfolg quälen zu wollen.

Stich: Von außen ist es immer sehr einfach zu meckern. Wir sind ja auch alle Fußball-Bundestrainer. Aber im Ernst: Ein Fünkchen Wahrheit ist an diesen Vorwürfen dran. Wenn dem nicht so wäre, und das können am Ende nur die Spieler beurteilen, muss man einfach akzeptieren, dass sie nicht genug Talent haben. Das ist die logische Schlussfolgerung. Ich aber glaube, dass einige das Talent haben, unter den Top 30 zu stehen. Und dann muss man sich die Frage stellen, wie sehr tue ich alles für meinen Beruf. Wichtig ist aber auch, welchen Erfolg diese Spieler für sich als angemessen empfinden.

Auf der anderen Seite sorgen die deutschen Frauen für positive Schlagzeilen. Sehen Sie Damen- und Herren-Tennis gleichberechtigt oder haben diese Erfolge für Sie einen anderen Stellenwert?

Stich: Nein, überhaupt nicht. Ich finde das, was die Mädels erreicht haben, toll. Auch weil einige aus Norddeutschland kommen. Das macht die Sache noch schöner. Es zeigt, was alles passieren kann. Andrea Petkovic wollte schon aufhören, dann hat Barbara Rittner sie überredet weiterzumachen. Jetzt steht sie in den Top 10. Das haben die anderen gesehen, und gedacht, so viel besser ist die gar nicht, das können wir auch. Genauso, wie es früher durch Boris, Steeb, Kühnen und uns passiert ist. Der gegenseitige Ansporn ist so wichtig. Und das wiederum fehlt den Herren.

Spieler wie Nadal und Djokovic haben sich über die Vielzahl an Turnieren und die kurzen Pausen beschwert. Wie stehen Sie dazu?

Stich: Ich finde, sie suchen nach Ausreden. Die Spieler müssen spielen. Das ist ihr Job und kein Wunschkonzert. Dazu gehört eine vernünftige Turnierplanung. Hinter allem steht eine riesige Maschinerie. Was die Spieler heute gerne vergessen, ist, dass die Turnierveranstalter ihnen überhaupt einen Job anbieten. Dafür erwarten die wiederum eine Gegenleistung. Es kann nicht sein, dass die Saison nach den US Open aufhört. Es mag tendenziell so sein, dass die Regenerationsphasen zu kurz sind. Aber wir hatten damals eine noch längere Saison. Jewgeni Kafelnikow hat zehn Jahre lang jedes Mal bei 28 Turnieren Einzel und Doppel gespielt. Der war nie verletzt und hat sich auch nicht beschwert. Heute könnten die Spieler vor den Australian Open eine längere Pause machen. Aber sie fahren nach Abu Dhabi und Katar, weil sie dort eine unglaubliche Antrittsprämie bekommen.

Glauben Sie, es ist heute einfacher Tennisprofi zu werden als früher?

Stich: Auf gar keinen Fall. Die Konkurrenz wird immer größer. Sich da durchzubeißen, erfordert heute wie damals einen starken Willen. Hinzu kommt, dass die Spieler heute physisch wesentlich austrainierter sind.

Würde ein DTB-Leistungszentrum für ganz Deutschland Sinn machen?

Stich: Ich sage seit zehn Jahren, dass wir so etwas brauchen. Das fehlt und ist eine absolute Notwendigkeit. Nur wenn ich mit den Besten spiele und trainiere, kann ich mich verbessern. Egal in welchem Job. Das hat das deutsche Tennis in den letzten Jahrzehnten nicht richtig auf die Reihe bekommen. Das ist ein großes Manko, was man beheben müsste.

Scheitert so etwas am Geld oder an den Empfindlichkeiten der Verantwortlichen?

Stich: Zum einen am Geld, zum anderen am Willen, sich das vorzunehmen. Es gab das Leistungszentrum in Hannover. Aber das wurde nie mit Inhalten gefüllt. Jetzt gibt es Bayern, Baden-Württemberg und Niedersachsen als Bundeszentren, aber das löst das Problem nicht. Die jungen Spieler müssten alle zusammengebracht werden. Am besten an einem „neutralen“ Ort, einer Stadt mit entsprechender Infrastruktur, aber fern der großen und starken Landesverbände. Dazu dann mit Internat, mit Schule und Ausbildungsmöglichkeiten. Das kostet Geld und erfordert auch eine Struktur, die man entwickeln muss.

Würden Sie sich bei der Entwicklung einer solchen Vision einbringen wollen?

Stich: Darüber würde ich mir dann Gedanken machen, wenn man mich fragen würde.

Können Sie sich ein Leben ohne Tennis vorstellen?

Stich: Klar, das Leben ist ja spannend genug. Aber Tennis ist das, was ich am besten kann. Es ist eine der schönsten Sportarten, die es gibt und von der ich am meisten weiß.