Beinahe
Olympische Beobachtungen: Bedrohliche Lippenpflege

07.02.2014 | Stand 02.12.2020, 23:06 Uhr

Mein Sotschi

Beinahe wäre mir ein Labello zur Pflege der Lippen zum Verhängnis geworden. Bei der salzigen Meerluft unten an der Küste und der UV-Strahlung oben in den Bergen ein Muss. Ich habe das gute Stück in der Anoraktasche. Ganz arglos.

Womit ich nicht gerechnet hatte, ist die Gründlichkeit des russischen Sicherheitspersonals. Auf dem Weg zum Olympischen Gelände muss ich mehrmals Kontrollposten passieren. Die Terrorgefahr ist nicht von der Hand zu weisen und die Russen nehmen die Drohung ernst. Der Bahnhof in Sotschi ist hermetisch abgeriegelt. Wer hinein will, muss sich unter die Lupe nehmen lassen. Genau die gleiche Prozedur wartet dann vor dem Olympischen Areal. Also leere ich meine Taschen aus, lege Anorak, Mütze, Rucksack, Laptop, Mobiltelefon, Geldbeutel und Fotoapparat in die bereitstehenden Plastikschalen. Diese werden geröntgt. Ich selbst warte, bis ich durch die Sicherheitsschleuse gehen darf. Kein Pipser. Dennoch: Der Polizist tastet mich ab. Nichts. Alles klar, denke ich, und will nach meinen Sachen greifen. „Einen Moment“, hält mich ein Kontrolleur zurück. Da wären zwei Flaschen in meinem Rucksack. Ob er die sehen dürfe? Meine zwei Wasserflaschen? Gerne. Er erklärt mir, dass das auch brennbare Flüssigkeiten sein könnten. Mit einem Gerät testet eine Kollegin den Inhalt. Das Wasser ist tatsächlich nur Wasser. Wieder greift meine Hand nach dem Anorak. Der Polizist hebt abwehrend den Arm. Im Anorak sei ein kurzer zylinderförmiger Gegenstand, sagt er. Ich ziehe das Labello heraus. „Für die Gesundheitspflege“, fragt der Polizist. Ich nicke. Ob ich ihn aufschrauben könne? Ich muss grinsen, nehme den Stift und schmiere mir die Lippen ein. Das ist ihm jetzt peinlich. Soweit wollte er die Sache nicht treiben. Ich stecke den Stift in die Tasche und denke an die Terroranschläge in Wolgograd. Dann bedanke ich mich für seine Gründlichkeit und steige mit ruhigen Gefühlen in den Zug.

 

Unser Redakteur Josef Bartenschlager kennt Sotschi aus den 90er Jahren. Seine Frau Ludmila stammt aus der Olympiastadt.