Kalter Krieg auf dem Eis

18.02.2018 | Stand 02.12.2020, 16:48 Uhr

Von Julia Pickl

Als das amerikanische Eishockey-Team in der 50. Minute durch Mike Eruzione zum ersten Mal in Führung geht, hält es die Zuschauer nicht mehr auf ihren Plätzen. "USA, USA", schallt es durch die Halle. Während die Gastgeber in den restlichen Spielminuten alles versuchen, um den knappen Vorsprung über die Zeit zu retten und sich mit Händen und Füßen gegen die Schlussoffensive der "Sbornaja" wehren, feuert das Publikum das US-Team frenetisch an und zählt die letzten Sekunden herunter. "Glauben Sie an Wunder", schreit ABC-Kommentator Al Michaels enthusiastisch in sein Mikrofon.

Es ist das Duell bei den Olympischen Spielen 1980 in Lake Placid. In der Finalrunde treffen die USA auf die Sowjetunion. Es ist die Zeit des Kalten Krieges, sieben Wochen zuvor sind die Sowjets in Afghanistan einmarschiert. Doch während sich die Länder weltpolitisch Auge in Auge gegenüberstehen, ist das Aufeinandertreffen bei Olympia ein ungleiches Duell: Viermal in Folge haben die sowjetischen Staatsamateure zuletzt olympisches Gold gewonnen, außerdem 14 der vergangenen 17 WM-Titel. Die "Sbornaja" trainiert eigentlich unter professionellen Bedingungen und scheint, so viel ist sicher, unbesiegbar. In der Vorrunde dominiert sie ihre Gegner: 16:0 gegen Japan, 17:4 gegen die Niederlande, 8:1 gegen Polen, 4:2 gegen Finnland, 6:4 gegen Kanada.

Die USA dagegen schicken eine unerfahrene College-Mannschaft aufs Eis, ein Jahr zuvor hat das Team bei der WM in Moskau einen enttäuschenden siebten Platz belegt, kurz vor dem Start der Winterspiele bestreitet die Mannschaft von Trainer Herb Brooks ein Vorbereitungsspiel gegen die Sowjetunion im New Yorker Madison Square Garden - es endet 3:10. Vor dem olympischen Turnier beschäftigen sich die Amerikaner gar nicht mit der sowjetischen Mannschaft, erzählte Kapitän Eruzione später dem "Spiegel". "Zum einen spielte sie in der anderen Vorrundengruppe, zum anderen sowieso in einer anderen Liga."

Und genau wie erwartet beginnt die Partie der beiden Mannschaften in der Finalrunde am 22. Februar 1980: Die "Sbornaja" geht nach neun Minuten durch Wladimir Krutow in Führung. Buzz Schneider erzielt überraschend den Ausgleich, doch schon in der 18. Minute trifft Sergej Makarow zum 2:1 für die überlegenen Sowjets von Trainer Wiktor Tichonow. Kurz vor dem Ende des ersten Drittels gelingt Mark Johnson per Nachschuss doch noch der Ausgleich für die Gastgeber.

Die Sowjets scheint das aber nicht zu beeindrucken, denn schon zwei Minuten nach Wiederanpfiff erzielt Aleksandr Maltsev das nächste Tor für die Gäste, die ihre Klasse ausspielen, während auf der anderen Seite der Goalie Jim Craig mit allen Mitteln die reihenweisen Schüsse des Gegners abzuwehren versucht - am Ende lautet das Torschussverhältnis 39:16 für die Sowjetunion. Doch die USA kommen erneut zurück: In der 49. Minute trifft Johnson zum zweiten Mal - 3:3. Es folgt die packende Schlussphase - der Rest ist Geschichte. Das "Miracle on Ice" ist geboren.

Zwei Tage später siegt die amerikanische Mannschaft mit 4:2 gegen Finnland und gewinnt so sensationell die Goldmedaille. Die Sowjets holen mit einem 9:2 gegen Schweden Silber. Anschließend werden die Amerikaner von US-Präsident Jimmy Carter im Weißen Haus empfangen. "Erst jetzt wurde mir klar, dass wir eine ganze Nation inspiriert hatten mit unserer Goldmedaille und vor allem mit unserem Sieg gegen die Sowjetunion", erzählte Eruzione. "Wir hatten die Sowjets besiegt, wir, diese Truppe namenloser College-Boys."