Ingolstadt
Lebenslauf

Der Sport hat den erblindeten Jeffrey Norris mehrmals gerettet Jetzt nimmt er am Ingolstädter Triathlon teil

08.06.2016 | Stand 02.12.2020, 19:42 Uhr

Positive Gedanken durch Sport: Jeffrey Norris nimmt an diesem Sonntag am Ingolstädter Triathlon teil. Der US-Amerikaner ist seit seinem 25. Lebensjahr blind. Der Sport gab ihm wieder neuen Lebensmut und das Laufen wurde zu seiner Leidenschaft. - Foto: Running Knowledge

Ingolstadt (DK) Besondere Menschen entwickeln sich durch besondere Geschichten, welche oft einen tragischen Anfangspunkt haben. Die Geschichte von Jeffrey Norris ist so eine. Tragisch, ein wenig unwirklich und erschütternd - vor allem aber aufbauend und motivierend. Jeffrey Norris nimmt an diesem Sonntag am Ingolstädter Triathlon teil. Und er wird diesen auch bestehen, problemlos. Jeffrey Norris ist 56 Jahre alt. Und er ist blind.

1,5 Kilometer schwimmen, 40 Kilometer Rad fahren und anschließend 10 Kilometer laufen. Was für einen wie mich, für den schon der 20-Meter-Sprint zur Bushaltestelle gegen den nahenden Bus zu Kreislaufproblemen führt, wie eine Lebensherausforderung klingt. Absoluter Wahnsinn. Für Jeffrey Norris ist es dagegen ganz normal, als hätte er sein ganzes Leben nichts anderes gemacht.

Der 56-jährige Mann, der mir da seine Geschichte offenlegt, redet viel - ohne, dass es störend wäre. Norris spricht bedächtig, hält immer wieder inne, überlegt sorgfältig. Er benutzt keine Phrasen, sondern versucht, etwas zu sagen, etwas mitzuteilen.

Und Norris hat einiges zu erzählen: Ende der 1950er-Jahre in den USA geboren, kam er bereits im Alter von zehn Jahren nach Deutschland. Die Eltern hatten sich getrennt, der gewalttätige Vater blieb in Amerika. Mit 18 dann der erste Schock: Als Folge eines Sturzes verlor sein linkes Auge die Sehkraft. Als wäre das nicht schon genug, meinte es das Schicksal ein paar Jahre später erneut nicht gut mit ihm. 1985 kam es zu einer Schlägerei, es blieben auf dem rechten Auge nur 0,2 Prozent Sehkraft. Zahlreiche Operationen folgten in den Jahren danach, führten zum Burnout. "Ich war ausgebrannt. Der Stress, die vielen Operationen, meine Sehkraft. Nach meinen Staatsexamen zum staatlich geprüften Masseur war ich leer. Ich wollte raus, ich wollte loslassen können."

Und wieder stockt er mitten im Satz, es herrscht Ruhe, er zögert und setzt neu an. Man könnte meinen, Norris kämpfe mit der deutschen Sprache, sein feinstes Fränkisch, das er sich als Wahl-Nürnberger angeeignet hat, bezeugt davon, dass er angekommen ist. In Deutschland, und auch im Leben.

Der Kuraufenthalt im Taunus sollte alles ändern. Eine Wandergruppe lehnte ihn ab, ein anderer Patient bekam dies mit und sprach ihn an. Er solle doch am nächsten Tag vor dem Frühstück für eine Stunde mal mitkommen. Die einzigen Bedingungen: Nimm Turnschuhe mit und lass die Zigaretten weg. Sie begannen am nächsten Morgen, am Waldrand zu laufen. Norris hielt sich am Oberarm seiner Bekanntschaft fest, irgendwann ließ er los - in seinem Geist. "Meine Kanäle gingen da erst auf, ich konnte die Umgebung aufsaugen", erzählt Norris heute. "Er erzählte mir von den Begegnungen, den Erlebnissen und der Substanz, die er daraus zieht, um den Alltag zu bewältigen. Das war inspirierend." Ein Satz, der genauso heute für Norris gelten könnte.

Das Laufen wurde zur Leidenschaft und zum neuen Antrieb. "Gleich an diesem Tag habe ich aufgehört zu rauchen, einen Tag später habe ich mir Laufschuhe gekauft", meint er lachend.

Die Erblindung sei letztlich ein Glücksfall gewesen. "Ich musste mich mitteilen, ich wollte am Leben teilhaben. Kommunikation ist wichtig, und ich habe begonnen, Menschen anders wahrzunehmen. Deswegen ist der Sport so schön, er hat einen sozialen Mehrwert." Vor allem aber hat Norris zu sich selbst gefunden. "Es sind Fenster nach außen und vor allem nach innen aufgegangen. Ich lebe in der Welt eines Sehenden."

Eigentlich, sagt er und lacht kurz, eigentlich sei es ja nur laufen. Doch auch als es vor drei Jahren zum zweiten Burnout kam, half der Sport. Neben dem Laufen hält Norris Vorträge, erzählt seine Geschichte und versucht, Mut zu schenken: "Der Weg, auf dem ich war, hatte Tendenz nach ganz unten. Aber es ist oft so, dass ein Impuls nötig ist. Auch wenn man nicht immer eine Chance sieht, man kann sich Möglichkeiten erarbeiten."

Er redet und lacht und schweigt und redet und hat so viel zu erzählen. Von seiner "komischen Schwimmtechnik", von Familie und Freunden, die er "vertrauenswürdig und zuverlässig" nennt. Eigenschaften, die ihm wichtig sind. Und wieder stockt er und fängt an zu reden. Ein wenig unangenehm ist es ihm, sodass er sich mit einem lockeren Spruch entschuldigt: "Ich habe dir vergessen zu sagen, dass ich wie eine defekte Jukebox bin. Wenn man 50 Cent einwirft, spiele ich für 5 Euro." Man nimmt es ihm nicht übel, schließlich hört man ihm gerne zu.

Zum Schluss spricht er wieder über den Wettkampf in Ingolstadt. Während des Triathlons hat er in jeder Disziplin eine Begleitung, unter anderem Veranstalter Gerhard Budy, der Norris beim Schwimmen beisteht. "Ich mag das Erlebnis, diese Team-Erfahrungen. Ich mag mich selbst erleben. Das alles sind beeindruckende Momente, die weiterbilden und positive Gedanken bringen."

Irgendwann hat Norris fertig gesprochen. Er ist ruhig, er scheint ausgeglichen, er wirkt glücklich. "Ingolstadt", beginnt er plötzlich, und man hört, wie sich die Mundwinkel nach oben ziehen, "ist nur zum Genießen." Er wird es genießen. Jeden einzelnen Kilometer. Man gönnt es ihm.