Ingolstadt
"Ich war mir immer sicher, dass ich gewinne"

10.11.2017 | Stand 02.12.2020, 17:14 Uhr

Foto: Sportfotodienst GmbH Imago

Ingolstadt (DK) Er erlebte Himmel und Hölle: Mit seinem spektakulären Schlussspurt sicherte sich Dieter Baumann 1992 Olympia-Gold über 5000 Meter. Sieben Jahre später wurde er positiv auf ein Dopingmittel getestet und für zwei Jahre gesperrt. Heute nimmt er die "Zahnpasta-Affäre" mit Humor - und diesen hat er auch zu seinem Beruf gemacht.

Herr Baumann, wie viele Paar Schuhe haben Sie in Ihrem Leben bisher verschlissen?

Dieter Baumann: Das ist eine gute Frage. Ganz ehrlich, ich habe sie gar nicht gezählt. Aber ziemlich viele. Man sagt, Schuhe halten 800 Kilometer. Ich habe sie vielleicht 400 Kilometer getragen. Mit neuen Schuhen läuft's sich einfach richtig komfortabel, und dann gewöhnt man sich das natürlich an, dass man sehr schnell wechselt. Ein neuer Schuh ist nicht nur ein gutes Gefühl, sondern auch gut für die Gesundheit. Und letztlich ging es um nichts anderes, als dass ich mich wenig verletze.

 

Wer es gesehen hat, kann sich noch heute an Ihren sensationeller Gold-Lauf bei den Olympischen Spielen 1992 in Barcelona erinnern. Woran erinnern Sie sich, wenn Sie daran denken?

Baumann: An sehr, sehr wenig. An das Rennen selbst kann ich mich eigentlich gar nicht mehr erinnern. Egal, wo ich hinkomme, das Video der letzten 400 Meter wird immer gezeigt. Das heißt, ich habe dieses Fremdbild - denn da gehe ich ja auch in die Beobachterrolle - schon so oft gesehen, dass dieses meine eigentlich einzigartig erlebte Welt völlig überlagert hat. Zurzeit gucke ich das immer an und denke: Wer ist denn der Weiße, der da mitläuft? (lacht)

 

Woran können Sie sich denn erinnern?

Baumann: Ich habe mich sehr auf Yobes Ondieki konzentriert. Er war ein Jahr zuvor Weltmeister geworden. Er hatte nur eine Chance, wenn er wegläuft, und das musste ich verhindern. Deshalb wollte ich diesen Moment nicht verpassen, damit ich gleich reagieren kann. Bis mir nach drei, vier Runden klar wurde: Jetzt ist es zu spät, jetzt haut er nicht mehr ab. Ich habe mich dann sehr sicher gefühlt, weil er der Einzige war, der mir mit einem taktischen Schachzug der Flucht gefährlich werden konnte. Dann war mir klar: So Freunde, jetzt wird es richtig schwierig für euch. Dann wächst man natürlich. Runde für Runde weiß man: So, jetzt geht's dann los.

 

Dann aber waren Sie, wie die Kommentatoren damals sagten, "eingekesselt". Sie mussten am Ende eine Lücke finden.

Baumann: Na ja, Dramatik! Gerd Rubenbauer und Dieter Adler, Gott im Himmel! Klar, das war eine taktisch schwierige Position. Aber der Spurt war in dem Moment noch gar nicht eröffnet. Mir war immer klar, wenn die Jungs mal spurten, dann gibt's die Lücke - und sie kam. Dann wusste ich, dass ich die alle im Griff habe. Ich war so überzeugt, von mir und von dem, wie das Rennen lief. Die waren alle langsam, und je länger die langsam liefen, umso besser war das für mich. Da war mir klar: So Freunde, genau so will ich das, wunderbar. Ich war mir immer relativ sicher, dass ich gewinne.

 

Wann haben Sie realisiert, dass Sie in dem Moment Sportgeschichte geschrieben haben?

Baumann: Nach dem Lauf ist man wie ausgeschaltet, da ist erst mal Leere. Erst Minuten danach, wenn man wieder zur Besinnung kommt, überlegt man sich: Was war das eigentlich jetzt für eine Nummer? Es sackt dann so langsam ab. Als ich auf die Ehrenrunde ging, bin ich zum ersten Mal erschrocken, obwohl ich es ja schon ein bisschen kannte. Aber Gold ist tatsächlich noch mal ein Riesenschritt. Und als ich dann in den Presseraum kam, bin ich echt erschrocken. Da habe ich zum ersten Mal gemerkt, das ist jetzt eine andere Liga. Ich wurde mit 200 Medienvertretern aus der ganzen Welt konfrontiert. Dann hat man auch sehr viel nicht so im Griff, wie man es vorher von seinem Leben kannte. Da kommt man erst mal unter eine große Lawine.

 

Schon vier Jahre zuvor hatten Sie in Seoul Silber gewonnen. Damals kannte Sie noch niemand. Lag 1992 mehr Druck auf Ihnen?

Baumann: Ich hatte den Eindruck eigentlich nicht, weil ich nach Seoul verletzt war. Ich war fast zwei Jahre außer Gefecht und begann dann im Grunde wieder bei null. Es wusste keiner so genau, wie ich einzuschätzen war. Insofern hatte ich es leicht, ich spürte nicht so viel Druck. Der kam hinterher. Ich hatte ab 1992 immer Druck. Aber entweder man wächst mit so etwas, oder man kommt nicht damit zurecht. Da gibt's nichts dazwischen, das ist leider so.

 

Und Sie sind damit gewachsen?

Baumann: Ich hatte schon auch schwierige Momente. Ich denke zum Beispiel an die WM 1995 in Göteborg, da wurde ich nur Neunter. Das Ding hätte ich gewinnen müssen! Da würde ich schon sagen, dass ich mit dem Druck nicht zurechtgekommen bin. Und drei Tage später laufe ich in Zürich deutschen Rekord. Das ist ja nicht erklärbar.

 

Dass es nicht so einfach ist, sieht man auch daran, dass es bis heute kein Deutscher geschafft hat, Ihren Erfolg bei Olympia zu wiederholen.

Baumann: Ja, das ist wirklich schwierig. Man braucht aber auch sehr viel Glück - und man braucht so einen Moment. Wenn Yobes Ondieki in Barcelona gesagt hätte: "Liebes kenianisches Team, ich brauche einen, der mir Tempo macht, und ich lauf dir hinterher" - dann hätte ich vielleicht wieder Silber gemacht oder vielleicht Bronze. Ich bin kein Fluchtläufer. Ich kann ganz wenig machen, wenn das Rennen ganz schnell wird. Ich bin tatsächlich ein Spurter, ein Taktiker. Ich lebe davon, dass die anderen sich nicht einig sind. Und in diesem einen Rennen kam alles zusammen.

 

Was würden Sie mit Ihrer Zeit von damals heute erreichen?

Baumann: Gar nix wahrscheinlich! (lacht) Mit der Zeit von Barcelona kommt man allenfalls ins Finale. Aber ich kann nicht eingreifen. Die Jungs spurten die letzten 1000 Meter in 2:30. Die machen das quasi im Schlaf. Das kann ich nicht. Bei mir muss das ganz gleichmäßig sein, da darf nichts ruckeln.

 

Was hat sich denn in den 25 Jahren verändert?

Baumann: Zum einen kommen die Jungs aus Ländern, die es damals zwar auf der Landkarte, aber nicht als Sportnation gab. Kenia, Äthiopien, Eritrea, um die drei Großen zu nennen. Kenia schickt Tausende von Läufern nach Europa. Die Infrastruktur Äthiopiens ist viel besser geworden, sie haben Sportrecruitingschulen, aus denen sie die Kinder holen. Die haben eine Talentsichtung im Lauf, das haben wir hier gar nicht. In den USA baut Nike ein Zentrum in Oregon auf, das wirklich stark ist. Und da haben wir das Thema Doping noch gar nicht andiskutiert. In Kenia haben wir in den letzten Jahren eine Flut von positiven Proben, 20 oder 30 Athleten pro Jahr. Das ist ein klares Indiz, dass dort etwas nicht stimmt.

 

Also bräuchten wir in Deutschland mehr Läufer.

Baumann: Ja, wir haben zu wenig Spitze, um den Druck zu entfachen. Wir müssen uns im eigenen Land nirgendwo durchsetzen. Man kann aber ja nicht immer nur alleine vor sich hintrainieren.

 

Wie oft laufen Sie heute pro Tag?

Baumann: Ich laufe jeden Tag zwölf Kilometer um den Gelbbauchunkenteich. Das ist ein kleines Projekt von mir. Ich muss jeden Tag dorthin und wieder zurück laufen und ein Bild machen. Das ist meine Motivation. Bis jetzt habe ich es fast geschafft, nur sechsmal hat es nicht funktioniert. Ich mache dann oft ein Gedicht, einen Vierzeiler, das ist auch Teil meines Comedy-Programms. Mein letztes ging so: "Abendstimmung am Gelbbauchunkenteich. Das Wasser leider seicht. Der Winter naht - schad." (lacht) Das ist ja eigentlich Blödsinn. Aber das Leben ist doch Blödsinn, oder? Ich steh' dazu.

 

Haben Sie auch als Aktiver Blödsinn gemacht und mal die Sau rausgelassen?

Baumann: Klar, aber nicht so oft. Ich hatte 1998 einen Weltcup in Johannesburg gewonnen und war im anderen Rennen Dritter geworden, und Nils Schumann hatte auch gewonnen. Dadurch waren die Läufer die erfolgreichste Disziplin, was ganz selten vorkommt. Meist waren das die Kugelstoßer. Gut, Kugelstoßen machen auch nur wir in Deutschland. (lacht) Auf jeden Fall haben wir dann eine Fete gemacht, und die war richtig gut.

 

Erfolg ist ein Resultat aus Talent und Arbeit. Wie viel Prozent machen die beiden bei Ihnen aus?

Baumann: Ich stolpere über den Begriff Arbeit. Ich arbeite nicht. Ich sage immer: Liebe Leute, ich schaff nix. Das ist mein Lebensmotto. Wenn ich etwas als Arbeit empfinde, dann breche ich sofort ab. Dann sage ich: Hey Leute, müsst ihr jemand anders suchen, bin ich nicht geeignet. Laufen aber ist keine Arbeit, das ist Vergnügen, das ist richtig toll. Und ähnlich ist es auch mit der Bühne. Bühne empfinde ich, wenn man es gut dosiert, wie Training. Dann ist das richtig Spaß.

 

Wie sind Sie dazu gekommen, mit einem Comedy-Programm auf die Bühne zu gehen?

Baumann: Das hat sich so ergeben. 2009 war ich zum ersten Mal mit einem Stück unterwegs. Zuvor hatte ich nach meinem Karriereende 2003 Vorträge, Versuche, Lesungen gemacht.

 

1999 wurden Sie positiv auf Nandrolon getestet, die sogenannte Zahnpasta-Affäre. Der DLV hat Sie freigesprochen, von der IAAF wurden Sie zwei Jahre gesperrt. Haben Sie das Thema mittlerweile abgehakt, oder ärgert es Sie noch heute?

Baumann: Das ärgert mich eigentlich nicht. Ich habe das so akzeptiert, wie das ist. Es gehört zu meiner Vita, genau wie Barcelona. Ich habe irgendwann entschieden, ich werde mein Leben gestalten und nicht meine Vergangenheit erneuern. Es ärgert mich manchmal in gewissen Situationen, aber die sind so speziell, dass ich das gar nicht erklären kann. Aber auch das macht mir nix. Für mich ist das erledigt.

 

Sie kamen damals gerade aus dem Trainingslager in St. Moritz. Sind Sie da aus allen Wolken gefallen?

Baumann: Ja, das können Sie sich vorstellen. Da wird einem der Boden weggezogen - und zwar für lange Zeit.

 

Haben Sie im Laufe der Jahre eine Erklärung gefunden, wie das Nandrolon in die Zahnpasta gekommen ist?

Baumann: Ich habe da schon meine Erklärung. Für mich ist vieles klar. Natürlich gibt es Mosaiksteine, die man nicht zuordnen kann. Aber ich jage keinen Täter mehr, das macht auch keinen Sinn. Da würde sich für mich auch nichts mehr ändern. Vielleicht für die Aufklärung. Es spielt für mein Leben keine Rolle.

 

Ihre beiden Kinder sind ebenfalls erfolgreiche Leichtathleten. Sind Sie da fest involviert?

Baumann: Ich bin Busfahrer (lacht). Wenn es darum geht, sie irgendwo hinzufahren. Meine Frau macht das Training, sie war ja auch meine Trainerin. Und ich glaube, beide müssen da nicht rumwurschteln. Wenn etwas schiefgeht, bin ich natürlich als Vater gefragt. Da tröste ich, da muss man da sein. Man muss einfach nur signalisieren, völlig unabhängig, ob einer richtig schnell läuft oder richtig langsam: Ich hab dich lieb, ich nehm dich, so wie du bist. Das gibt Sicherheit - und das ist mein Job.

 

Dreht sich bei Ihnen zu Hause eigentlich alles nur ums Laufen?

Baumann: Ja, schrecklich, wirklich schrecklich. (lacht) Laufen, laufen, laufen. Das ist ein fürchterliches Haus.

 

Das Interview führte Julia Pickl.