Fulda
Rendezvous mit Friederike

19.01.2018 | Stand 02.12.2020, 16:55 Uhr

Foto: DK

Fulda (DK) Eigentlich habe ich mich auf den Neujahrsempfang beim FC Ingolstadt gefreut. Mal ein paar private Worte abseits des Fußball-Tagesgeschäfts mit Spielern und Funktionären wechseln und mit den Kollegen fachsimpeln, das war der Plan. Und zum Essen hätte es bestimmt auch etwas Feines gegeben. Stattdessen löffle ich im Fuldaer Bahnhof aus einer Plastikschale eine heiße Gemüsesuppe mit Nudeln - und bin sogar froh darüber.

Ich bin einer von rund 1000 Gestrandeten, die das Orkantief Friederike in der hessischen Domstadt fesselt. Die Nacht verbringe ich in einem Intercity, den die Bahn wortgewandt zum "Hotelzug" deklariert.

Mein Rendezvous mit Friederike beginnt in Luckenwalde. Auf dem Rückweg vom Testspiel des FCI gegen Union Berlin sieht die Welt am Donnerstagmorgen noch ganz gut aus. Der Wind bläst am Bahnsteig ein bisschen heftig, aber nicht weiter schlimm, und die Regionalbahn nach Wittenberg fährt pünktlich um 9.12 Uhr los. Auch der Anschlusszug nach Erfurt ist noch zügig unterwegs, doch in Thüringen gibt es die erste Planänderung. "Reisende in Richtung Nürnberg möchten bitte bis Fulda an Bord bleiben. Die Züge werden wetterbedingt umgeleitet", lautet die Durchsage.

So weit, so gut. Es ist erst kurz nach Mittag, aber es wird bald klar, dass in Fulda erst einmal Endstation ist. Zug um Zug wird mit ein- bis vierstündiger Verspätung auf den Hinweistafeln angekündigt und schließlich abgesagt, bis es um 16 Uhr heißt: "Der gesamte Fernverkehr wird bis auf Weiteres eingestellt." Aus dem ICE 703, der in knapp viereinhalb Stunden von Berlin nach München fahren soll, wird plötzlich ein "Hotelzug". Das bedeutet: Er steht auf Gleis 4 und dient dazu, die Fahrgäste zu beherbergen, die nach und nach mit anderen Zügen langsam von überall her in den Bahnhof einfahren.

Die Sonne scheint, der Wind weht eher mäßig, und gäbe es nicht die Schadensmeldungen in den Nachrichten, wäre der Zwangsaufenthalt nicht nachvollziehbar. So aber bleiben die meisten Reisenden ruhig und nehmen den kostenlosen Getränkeservice der Bahn dankbar an. Nesrin, die Zugbegleiterin aus Nürnberg, die seit 5 Uhr früh unterwegs ist, bewältigt im Bordrestaurant den Ansturm auf Kaffee, Tee, Wasser und Bier sowie die angebotenen Kuchenstücke und Häppchen mit einem charmanten Lächeln. Ein Fahrgast rennt trotzdem auf und ab und murmelt immer wieder: "So ein Saftladen."

Derweil bilden sich im Reisezentrum der Bahn lange Schlangen. Jeder will wissen, wie es weitergeht. Nur eines ist klar: Mit dem Zug jedenfalls nicht. Jetzt gibt es einige Diskussionen mit dem geduldigen DB-Personal, es wird lauter und vor allem um Taxis gestritten. Rasch sind diese ausgebucht, ebenso Fernbusse und Mitfahrgelegenheiten. Auch Hotels freuen sich über ein unerwartetes Zusatzgeschäft. In den Buchungsportalen ist um 18 Uhr im Stadtgebiet Fuldas kein Zimmer mehr frei. Die DB App verspricht unterdessen nach wie vor Verbindungen mit Regionalzügen, und die Gerüchteküche brodelt. Doch die vermeintlichen Infos erweisen sich als trügerisch. "Bis morgen früh fährt kein Zug mehr", heißt es vor Ort. Genaueres weiß keiner.

Allmählich schwindet die Hoffnung, die Reise am Abend doch noch fortsetzen zu können. Man richtet sich ein. In meinem Fall teilen wir uns zu viert ein Sechserabteil. Heike aus Heidelberg hat Theater- und Opernkarten für Berlin - eine Vorstellung kann sie schon vergessen. Monika will Freunde in der Hauptstadt besuchen, und Steffi ist auf dem Weg in ihre künftige Studentenstadt Neuruppin. Es entsteht eine Schicksalsgemeinschaft für eine Nacht. Man hilft sich, man plaudert, und Heike ist sogar der FCI ein Begriff. "Meine Enkel spielen alle Fußball. Darum weiß ich, dass Ingolstadt ganz gut ist", sagt sie. Gegen 20 Uhr rückt die Feuerwehr an. Aber nicht, weil es brennt, sondern um frisches Obst und Decken in den mittlerweile drei Hotelzügen zu verteilen. Später bringen die freiwilligen Helfer dann die bereits erwähnte Suppe und ernten viel Lob und gelegentlich auch eine Spende in die Gemeinschaftskasse. Sie bleiben die ganze Nacht bis 8 Uhr morgens. Feuerwehrmann Günther erzählt: "In Zug zwei feiert einer 80. Geburtstag." Herzlichen Glückwunsch!

Es ist 23 Uhr. Das Licht im Zug geht aus. Nachtruhe. Ich büxe aus und mache noch einen Spaziergang durch die Altstadt. Kaum ein Mensch ist unterwegs, die Kneipen schließen. Das Schloss und der Dom sind nur spärlich beleuchtet. Ein Bus mit Gästen der abendlichen Operettenvorstellung "Der Vogelhändler" steht abfahrtsbereit vor dem Schlosstheater. Eine Kirchturmuhr schlägt Mitternacht. Es ist windstill.

Ich kehre zurück und schreibe. An Schlaf ist nicht zu denken. Auch Frauen können schnarchen. Um 5.13 Uhr ist die Nacht vorbei. Eine weibliche Stimme kündigt über Lautsprecher die ersten Zugverbindungen an. Sofort sind alle hellwach und eilen zu den Bahnsteigen. Ein abruptes Ende der Zweckbündnisse. Abschied. Doch es dauert noch mehr als zwei Stunden, bis der erste Zug tatsächlich fährt. Meiner verlässt Fulda um 8.12 Uhr. Das Rendezvous mit Friederike geht zu Ende.