Ingolstadt
Der ganz normale Wahnsinn

27.11.2014 | Stand 02.12.2020, 21:56 Uhr

 

Ingolstadt (DK) An diesem Samstag wird es fehlen. Zum ersten Mal überhaupt, und dann auch noch bei einem Heimspiel. Wenn Bayer Leverkusen den 1. FC Köln in der Bundesliga zum brisanten Rheinderby empfängt, verzichtet der Gastgeber auf sein Klubmobil.

Ein VW-Bus, an dem Bayer-Fans seit mehr als einem Jahrzehnt bei Heim- und Auswärtsspielen Ansprechpartner finden, sich über Touren informieren und Fanartikel kaufen können. Der Grund für den Verzicht ist die Befürchtung, dass Gästefans die Utensilien klauen oder den Stand verwüsten könnten. Das kann man als Kapitulation vor den Chaoten werten – oder als kluge Vorsichtsmaßnahme, die möglicherweise weitere Schlagzeilen verhindert.

Gegenseitiger Fahnenklau beim Revierderby, ein von Hannover-Fans verwüsteter Regionalzug, die Feuerlöscher-Attacke auf eine U-Bahn-Fahrerin vor dem Frankenderby, Überfälle auf Autobahn-Raststätten, Angriffe auf Fanbusse, Graffiti-Schmierereien und Pyrotechnik – für all diese Schlagzeilen haben Fußballfans in den vergangenen Monaten und Jahren gesorgt.

Negativer Höhepunkt in jüngster Zeit war die Schlägerei zwischen Karlsruher und Kaiserlauterer Fans auf der Tribüne des Fritz-Walter-Stadions Anfang Oktober. Ein Vorfall, wie es ihn in der Bundesliga seit Jahren nicht gegeben hat. Die Liste ließe sich beliebig erweitern, beinahe jedes Wochenende kommt ein weiteres Kapitel hinzu. Eine unbelehrbare Minderheit hat es immer gegeben – und wird es wohl auch immer geben. Doch hat die Gewalt in der Bundesliga eine neue Dimension erreicht?

Marcel Lehmann ist Mitglied der Leverkusener Ultra-Szene und arbeitet für das Fanprojekt des Bundesligisten. Er hat eine klare Antwort auf die Frage: „Ich würde sagen, dass es deutlich weniger geworden ist.“ Es seien vor allem Einzelfälle, die auffallen. „In dieser Saison sind es ungewöhnlich viele, das stimmt“, gibt der 29-Jährige zu. Viele Vorfälle seien allerdings auf hausgemachte Probleme zurückzuführen. Bei der Schlägerei in Kaiserslautern beispielsweise hätten Polizei und Ordnungsdienst versagt. Die hatten offenbar nicht mehr mit einer Eskalation der Situation gerechnet und waren bereits abgezogen.

Zwischenfälle auf Auswärtsfahrten seien inzwischen die Ausnahme. Wenn es Ärger gebe, seien in vielen Fällen „Mitläufer“ verantwortlich. „Das sind Personen, die zwei- oder dreimal pro Jahr mitfahren. Die sind nicht in der Fanszene sozialisiert und kennen die Gepflogenheiten nicht. Von denen geht oft das größte Gefahrenpotenzial aus. Die werfen Flaschen oder legen sich mit der Polizei an“, sagt Lehmann, der solche Fälle jedoch als Ausnahmen betrachtet. „Auf den Zugtouren passiert fast gar nichts mehr. Früher ist es an den Bahnhöfen häufiger zu Zusammenstößen gekommen. Heute werden auch die Spiele oft so angesetzt, dass sich die Fangruppen gar nicht mehr treffen“, erklärt er.

Manche Schauplätze haben sich auch verlagert – etwa ins Internet. Soziale Netzwerke wirken als Katalysatoren der Provokationen – auch vor dem Rheinderby: Im Internet kursiert ein Bild, auf dem zwei vermummte Männer in Bayer-Klamotten mit einem Ziegenkopf posieren, dem Wappentier der Kölner. Das Tier trägt die Flagge einer Kölner Ultra-Gruppierung im Maul. „Das Pöbeln bei Facebook hat zugenommen. Da kann ja jeder irgendwas posten. Da sind zum Teil Leute weit außerhalb der Fanszene unterwegs, die sich als Ultras ausgeben“, sagt Lehmann. Provokationen im Internet mögen ein recht neues Phänomen sein, die Schmähungen sind es nicht. Im Vorjahr deponierten Unbekannte vor dem Derby gegen Fortuna Düsseldorf vier gehäutete Ziegenköpfe an einer Straßenbahn-Haltestelle nahe des Kölner Stadions.

Michael Fenstermacher ist Fan des 1. FC Köln – und teilt viele Einschätzungen Lehmanns. „Ich fühle mich nicht bedroht, habe auch nie ein mulmiges Gefühl, heute nicht und früher nicht“, sagt der 32-Jährige. Fenstermacher hat jahrelang eine Dauerkarte besessen und alle Derbys des FC auch auswärts miterlebt: Leverkusen, Mönchengladbach, Düsseldorf. „Ich glaube, wenn man potenziell brenzlige Situationen meidet, hat man ein sicheres Stadionerlebnis“, sagt er. „Natürlich aber auch, weil bei Risikospielen die Polizeipräsenz so groß ist.“

Lehmann sieht die Ordnungshüter ebenfalls „gut aufgestellt“ – übt allerdings auch Kritik. „Wenn man als Fangruppe an einem Bahnhof ankommt, von der Polizei in voller Montur empfangen wird und sich nirgendwo hinbewegen darf, weder zur Toilette, noch um etwas zu essen zu holen, dann schürt das Aggressionen. Das ginge jedem Menschen so.“ Grundsätzlich sei das Verhältnis zwischen Fans und Polizei in Leverkusen aber unkompliziert.

Dass die Gewaltbereitschaft grundsätzlich zugenommen hat, sei durchaus möglich, meint Fenstermacher. „Trotzdem denke ich, dass ein Stadionbesuch heute sicherer ist als in den 80er Jahren.“ Wenn auch ohne Klubmobil.