Bundesliga
Tor oder nicht Tor?

Erster Einsatz des Videobeweises in der Bundesliga

17.08.2017 | Stand 02.12.2020, 17:38 Uhr

Der Videobeweis wird am Freitagabend erstmals in der Bundesliga eingesetzt. Die neue Technik soll den Schiedsrichter künftig bei Toren, Strafstößen, Roten Karten und Verwechslungen unterstützen.

Krestowski-Stadion St. Petersburg, 2. Juli. Es läuft die 63. Spielminute, als der Chilene Gonzalo Jara dem deutschen Stürmer Timo Werner bei einem Zweikampf den Ellbogen ins Gesicht schlägt. Schiedsrichter Milorad Mazic aus Serbien sieht die Aktion nicht und entscheidet auf Einwurf. Die beiden Videoreferees intervenieren, Mazic sieht sich die Szene daraufhin noch ein paarmal auf dem Bildschirm am Spielfeldrand an – und trifft dennoch die falsche Entscheidung. Er zeigt Jara nur die Gelbe Karte. „Ich kann nicht richtig schlucken“, sagte Werner nach dem Spiel zerknirscht. „Mir tut der Kiefer immer noch weh.“

Die Premiere des Videoschiedsrichters im Confed-Cup in Russland war alles andere als erfolgreich. Neben der Fehlentscheidung im Finale zwischen Deutschland und Chile trotz der TV-Bilder sorgten die langen Unterbrechungen und die Unklarheiten auf dem Platz für mehr Verwirrung als Klarheit.

Heute Abend wird der Videobeweis erstmals in der Geschichte der Bundesliga eingesetzt, im Auftaktspiel zwischen Rekordmeister FC Bayern und Bayer Leverkusen. Nach der Einführung der Torlinientechnik im Jahr 2015 ist der Videoassistent die nächste Regelrevolution im deutschen Fußball. Ein Jahr lang haben sich die deutschen Schiedsrichter darauf vorbereitet, Hunderte Male wurde trainiert, geschult, getestet. Einen Fehlstart wie im Confed-Cup soll es in der Bundesliga nicht geben. „Ich bin mir sicher, dass es in der Bundesliga einen erfolgreichen Start geben wird“, sagt der langjährige Bundesliga-Schiedsrichter Knut Kircher. „Denn wir haben einen großen Unterschied zum Confed-Cup: In der Bundesliga sind wir seit einem Jahr in der Testphase, indem wir dort schon Spiele begleiten. Diese Vorlaufphase hatten die Confed-Cup-Schiedsrichter nicht, deshalb ging’s meiner Ansicht nach dort auch ein bisschen schief.“

Dennoch wird die kommende Bundesliga-Saison eine Test-Spielzeit. Und dass auch in Deutschland nicht alles perfekt funktioniert, bewies der Einsatz im Supercup. Auch wenn alle Entscheidungen richtig ausfielen, hakte im Spiel zwischen Borussia Dortmund und dem FC Bayern die Technik. Dem Videoassistenten standen in der ersten Halbzeit die kalibrierten Abseitslinien, die die Entscheidung visuell deutlich machen, nicht nur Verfügung, und dem ZDF wurden keine Bilder vom abseitsverdächtigen 1:1 der Münchner aus dem Videoassistcenter in Köln übermittelt. Künftig sollen den TV-Sendern nun aber die Bilder mit den Abseitslinien zur Verfügung gestellt werden, auch wenn der Schiedsrichter seine Entscheidung nach Rücksprache mit dem Videoreferee nicht ändert. 

Natürlich scheiden sich an der Einführung die Geister. Verliert der Fußball im Streben nach Perfektion seine Seele? Wird durch immer mehr Technik die Faszination des Spiels zerstört? Wird es nie wieder jahrzehntelange Streitereien um ein Tor, nächtelange Diskussionen über einen Elfmeter und endlose Debatten über einen Platzverweis geben? Vor allem ständige Spielpausen, zu lange Entscheidungsfindung und Verwirrung unter den Zuschauern könnten dem Sport schaden. „Man kann sich nicht direkt freuen. Man muss abwarten, was der Schiedsrichter sagt“, meinte Bayerns Sebastian Rudy nach dem Supercup. „Ich fand die Torlinientechnologie super wichtig, aber den Videobeweis finde ich unnötig. Fußball lebt von schnellen Entscheidungen, und wenn es auch nur eine Minute dauert, finde ich das grenzwertig“, sagt Dortmunds Nuri Sahin. 

Andererseits ist der Fußball ein Milliardengeschäft. Falsche Entscheidungen können einem Klub Millionen kosten. Der Videobeweis soll grobe Fehlentscheidungen verhindern und den Sport fairer machen. „Wieso sollte man sich den technischen Möglichkeiten, den Hilfsmitteln verwehren?“, fragt Kircher. „Wenn so etwas schnell geht, wieso sollte ich Dinge, die man auflösen kann, nicht auch in diesem Moment auflösen und stattdessen wochen-, monate- oder jahrelang diese Emotionen im Gepäck herumtragen?“

Für die Schiedsrichter ist der Videobeweis auf jeden Fall ein zusätzliches Hilfsmittel, kein ungeliebter Eingriff in ihre Arbeit, der ihre Entscheidungen kontrolliert. Kircher nennt den Videoassistenten eine „Back-up-Lösung“. „Der Videoassistent bietet uns ein Sicherheitsnetz“, sagt Schiedsrichterin Bibiana Steinhaus.

Emotionen und Diskussionen wird es im Fußball immer geben, daran soll auch die neue Technik nichts ändern. „Klar wird es Menschen geben, die nach wie vor mit einem kolorierten Blick aus Sicht einer Mannschaft hingucken und sagen: Ha, das ist für mich, also den Fan, ein klarer Strafstoß“, erklärt Kircher. „Ein anderer schaut hin uns sagt: Das kann man pfeifen, muss man aber nicht. Das ist der berühmte Graubereich, wo wie die Entscheidung beim Schiedsrichter auf dem Platz belassen und herrlich über Fußball diskutieren können.“
 

Technik

In der neuen Saison werden alle 306-Bundesliga-Spiele von Videoschiedsrichtern auf Fehlentscheidungen untersucht. Die Deutsche Fußball-Liga hat dafür 1,8 Millionen Euro in die Technik investiert. Seit einem Jahr wird trainiert: 23 Bundesliga-Schiedsrichter wurden dafür ein Jahr lang geschult. Dafür wurde im Cologne Broadcasting Center in Köln ein 100 Quadratmeter großes, zentrales Videoassistcenter eingerichtet. Während der Partien sitzt dort der Videoassistent vor vier TV-Bildschirmen und verfolgt das Spiel. Dafür hat er 21 Kameraeinstellungen zur Verfügung. Zwei Videooperatoren bereiten die Bilder in sekundenschnelle aus mehreren Perspektiven für strittige Entscheidungen auf, sie spielen beispielsweise Zeitlupen oder Wiederholungen ein. Zudem unterstützt den Videoassistenten ein Supervisor. 
 

Ablauf

Vier Leute sezieren in Köln die die Arbeit ihres Kollegen auf dem Fußballplatz. Glaubt der Videoassistent, dass die Entscheidung des Schiedsrichters auf dem Rasen unzweifelhaft falsch ist, greift er ein und teilt seine Entscheidung per Funk dem Schiedsrichter mit. Der Referee kann auch selbst auf einem Bildschirm in der Video Area am Spielfeldrand die Entscheidung überprüfen. Länger als zehn bis 40 Sekunden soll ein Spiel dadurch nicht unterbrochen werden. Damit auch die Zuschauer im Stadion wissen, was los ist, fasst sich der Schiedsrichter mit der Hand ans Ohr, um zu zeigen, dass er kommuniziert. Wird seine Entscheidung geändert oder sieht er sich die Spielszene auf einem Monitor am Spielfeldrand selbst an, zeichnet er symbolisch die Umrisse eines Bildschirms in die Luft. Zudem erscheint ein Logo auf den Videoleinwänden, später soll es auch Bewegtbilder geben. 
 

Entscheidungen

Es werden nur Aktionen überprüft, die in direktem Zusammenhang mit einem Tor, einem Elfmeterpfiff, einer Roten Karte oder einer Spielerverwechslung bei einer Gelben oder Roten Karte stehen. Dabei bleiben aber auch Graubereiche. Selbst nach der Überprüfung der Videobilder kann es vorkommen, dass ein Elfmeter nicht hundertprozentig einer ist. In diesen Fällen bleibt der Schiri der Boss: Der Videoassistent darf ihn nicht überstimmen. „Die Erwartungshaltung sollte ein bisschen gedämpft werden, gerade weil es diesen Graubereich gibt“, warnt Kircher. „Es kann nicht der Anspruch sein, dass man am Ende eines Spiels aus dem Stadion geht und denkt: Super, alles geregelt, jetzt muss ich gar nicht mehr über Entscheidungen diskutieren.“ Wird das Spiel fortgesetzt, ist die Möglichkeit der Überprüfung vorbei, dann kann die Entscheidung des Schiedsrichters nicht mehr revidiert werden.
 

Gerechtigkeit

Bei den Trockentests in der vergangenen Bundesliga-Saison gab es laut DFL in 306 Spielen 104 spielrelevante Fehlentscheidungen. Davon wären 77 mit dem Videoassistenten reparabel gewesen. In dieser Saison wird das System eingesetzt, dennoch ist die Spielzeit eine Testphase. Die Regelhüter des International Football Association Board (Ifab) werden die Arbeit bewerten und danach entscheiden, wie es mit dem Videoassistenten weitergeht. So muss getestet werden, wie weit vor einem Treffer bei der Fehlersuche zurückgegangen wird. „Wir sind uns im Klaren, dass nicht alles reibungslos ablaufen wird“, sagt Projektleiter Hellmut Krug. „Wir befinden uns noch auf dem Lernweg, das muss allen Beteiligten klar sein.“ Eine Fehlerquote von null Prozent werde es nicht geben, es gehe vielmehr darum, klare Fehler zu vermeiden, erklärt Krug.