Nizza
Noch kein Sommermärchen

Die Franzosen tun sich schwer, die Europameisterschaft in ihrem Land mit Euphorie zu begleiten

23.06.2016 | Stand 02.12.2020, 19:38 Uhr

Nizza (DK) Ein Haus, hoch droben über Nizza, direkt an der Corniche, der legendären Panoramastraße. Am kleinen Pool liegen zwei Damen in der Nachmittagssonne. Sie müssten sich nur mal kurz erheben, dann könnten sie hinunterschauen aufs Stadion, wo sich später die Belgier und die Schweden duellieren werden.

Man hat von diesem Haus an der Corniche nämlich einen erstklassigen Blick auf die EM-Arena von Nizza. Aber die beiden Damen am Pool interessieren sich hauptsächlich für ihren Teint. Schön braun ist die Haut. Die Europameisterschaft? "Man kriegt mit, was da passiert", sagt die eine. Die andere meint: "Sonst ist kein Fußball. Das ist besser."

Man wartet in Nizza jetzt auf die englische Invasion. Am kommenden Montag bestreiten die Three Lions an der Côte d'Azur ihr Achtelfinale gegen Island. Abertausende Fans werden kommen. Als die Engländer vor zwei Wochen in Marseille in die EM starteten, gab es tagelang Randale. Haufenweise grölende Fans im Vollsuff, nein, das ist gar nichts für die beiden Damen. Sie werden oben bleiben im Haus an der Corniche. Und vielleicht mal runterschauen, wenn es ihnen am Pool doch zu langweilig wird.

Natürlich repräsentieren sie nicht Frankreich. Aber es ist schon so, dass man nach der EM-Stimmung intensiv suchen muss. Kein Vergleich mit dem deutschen WM-Sommermärchen von 2006, als beinahe die ganze Nation von der Feierfreude gepackt war. Die Welt zu Gast bei Freunden. Ein fröhlich strahlendes Germanien - was wurde da gestaunt in Ländern, in denen das Bild vom hässlichen Deutschen fest verwurzelt war. Und nun, zehn Jahre später, hier in Frankreich. Ist Europa zu Gast bei... hmm, ja: Ignoranten. Viele Franzosen leben ihren Alltag. Autofähnchen, Rückspiegelhüllen in Nationalfarben, überall Grillpartys mit Fußballgucken, so was gibt es nicht. Stattdessen gibt es viele Probleme in der französischen Gesellschaft. Streiks, Demonstrationen. Die von der Politik angedachte Arbeitsmarktreform belastet viele Menschen mit schwermütigen Gedanken. An den Balkonen von Hochhäusern kann man manchmal blau-weiß-rote Fahnen im Wind flattern sehen. Das immerhin.

Die Franzosen sitzen zu Hause vor den Fernsehern, wenn Les Bleus kicken. In den Spielstädten fallen immer wieder andere Fangruppen aus Europa ein, die kurzzeitig für Stimmung sorgen. Manchmal aber auch für Randale. Schön ist es, wenn die Nordmänner aus Island vorbeikommen. Oder die Schweden, die sind nun aber ausgeschieden. Beide Länder haben eine sehr angenehme Fankultur, positiv, ohne Krawall. Auch die Russen sind weg, die Angst gemacht hatten. Vor dem letzten Auftritt der von Hooligans begleiteten Sbornaja in Toulouse gegen Wales wurde kurzfristig das Polizeiaufgebot um einige Hundertschaften aufgestockt. 1900 Mann waren schließlich im Einsatz. Feierlaune kann da nur schwer aufkommen.

Was wurden in Deutschland Vuvuzelas verkauft, als die WM in Südafrika stattfand. Auch vor dieser EM gab es bei den deutschen Supermarktketten allerlei Krusch im Look des Turniers zu kaufen. Und in Frankreich? Verschämt steht in einem Eck des Géant Casino von Arles ein Ständerchen mit EM-Schlüsselbändern, Servietten in Frankreichfarben und kleinen Fähnchen. Auch ein paar Trikots gibt es zu kaufen. Das war es dann aber.

Immerhin ist Frankreich bislang von Terroranschlägen verschont geblieben. Man hatte Schlimmes befürchtet im Vorfeld des Turniers, wahrscheinlich zurecht. Überall, wo Fans zusammenkommen, ist die Polizei stark präsent. Ob an den Stadien, in den wenig begeisternden Fanzonen, auf den Straßen oder Bahnhöfen. Die Staatsmacht will mit gepanzerten Fahrzeugen und gepanzerten Einsatzkräften Abschreckung betreiben.

Ein vollkommener Kontrapunkt hierzu ist das Haus an der Corniche, oberhalb von Nizza. Friedliche Urlaubsstimmung herrscht dort, angestrahlt von der Sommersonne der Côte d'Azur. Aber EM-Stimmung findet man halt keine.