Ingolstadt
Von Rumpelfüßlern zu Weltmeistern

Die EM 2000 gilt als Tiefpunkt der DFB-Historie und als Startpunkt der erfolgreichen Talentförderung

17.06.2016 | Stand 02.12.2020, 19:39 Uhr

Ingolstadt (DK) Kaiser Franz Beckenbauer verhöhnte sie als "Rumpelfüßler", in der "Bild"-Zeitung hießen sie nur noch "Bratwürste": Bei der EM 2000 in Holland und Belgien scheiterte die deutsche Nationalmannschaft kläglich schon in der Vorrunde. Der Tief- wurde zum Wendepunkt in der DFB-Historie.

Die Vorführung war längst perfekt, als Humberto Coelho sich zur ultimativen Demütigung entschloss. Die Nachspielzeit im Rotterdamer Stadion De Kuip brach an, als Portugals Trainer im letzten EM-Gruppenspiel 2000 gegen Deutschland seinen dritten Torhüter Quim einwechselte. In seine B-Elf, welche die deutsche Nationalmannschaft um den 39-jährigen Libero Lothar Matthäus im dritten EM-Gruppenspiel der Lächerlichkeit preisgegeben hatte. Zum Schrecken der Deutschen war ein Mittelfeldspieler namens Sergio Conceicao geworden, der beim ungefährdeten 3:0-Sieg der schon zuvor für das Viertelfinale qualifizierten Portugiesen alle Treffer erzielte.

Während Oliver Kahn, Thomas Linke, Thomas Häßler oder Paulo Rink ihren Frust anschließend auf der Terrasse des Teamhotels runterspülten, bereitete Bundestrainer Erich Ribbeck seinen Rücktritt vor. Die schauderhafte deutsche EM-Bilanz: drei Spiele, kein Sieg, 1:5-Tore, letzter Platz in der Gruppe hinter Portugal, Rumänien und England. "Pessimisten glauben, dass der dreimalige Weltmeister Deutschland erst in zehn Jahren wieder mit der europäischen Spitze konkurrieren könne", malte das "Hamburger Abendblatt" schwarz.

Der Tiefpunkt der neueren deutschen Fußballgeschichte ist erst 16 Jahre her, doch wirken die Bilder aus dem Juni 2000 wie aus einer anderen Zeit. Wie rasant sich der deutsche Fußball seitdem entwickelt hat, lässt sich schon an einem Vergleich der beiden deutschen EM-Kader ablesen. Im Jahr 2000 betrug das Durchschnittsalter 27,26 Jahre. Die einzigen Nominierten, die jünger als 25 Jahre alt waren, hießen Sebastian Deisler und Michael Ballack. Im aktuellen EM-Aufgebot verhält es sich fast umgekehrt: Nur vier Profis sind älter als 30 Jahre, mit einem Altersschnitt von 25,81 Jahren ist die deutsche Mannschaft die jüngste beim Turnier in Frankreich.

Zufall ist das nicht. Der Schock von 2000 bewirkte beim Deutschen Fußball-Bund (DFB), dessen Strukturen so antiquiert waren wie die Taktik der Nationalelf, ein radikales Umdenken. Zunächst erweiterte sich der Wortschatz der fußballinteressierten Deutschen um einen neuen Begriff: den der Task Force. Ein prominent besetzter Krisenstab unter dem Vorsitz von Karl-Heinz Rummenigge sollte im Auftrag des DFB Ideen für den Aufschwung sammeln. Unter anderem an Bord: die Manager Rudi Assauer (Schalke 04), Uli Hoeneß (Bayern München) und Klaus Allofs (Werder Bremen). "Das Nationalteam muss von uns allen als 19. Mannschaft der ersten Liga betrachtet werden, und zwar als die beste", sagte Leverkusens damaliger Geschäftsführer Wolfgang Holzhäuser. Die Ergebnisse der Task Force lagen schnell auf dem Tisch, und sie waren eindeutig: Es mangelte an Talenten, die Jugendarbeit und die technisch-taktische Ausbildung waren zu lange vernachlässigt worden.

Der 2015 verstorbene Gerhard Mayer-Vorfelder, ab 2001 DFB-Präsident und stets mit dem Gespür für die herrschende Stimmung ausgestattet, setzte sich an die Spitze der Reformbewegung, der auch der Zuschlag für die WM 2006 im eigenen Land Rückenwind verschaffte. Vor der Jahrtausendwende war die Nachwuchsarbeit föderal organisiert gewesen - jeder Landesverband konnte nach seinen Vorstellungen arbeiten. Das änderte sich nun: Der DFB errichtete bundesweit Nachwuchsstützpunkte - aktuell sind es 366 - und stellte rund 1300 qualifizierte Trainer ein.

Für die Bundesligisten und später auch die Zweitliga-Klubs wurde - trotz einiger Widerstände - ein eigenes Nachwuchsleistungszentrum Pflicht. Auch immer mehr Drittligisten und sogar einige Regionalligisten leisten sich eines: Zuletzt wurde vor wenigen Tagen die "Jahnschmiede" von Drittliga-Aufsteiger Regensburg als 55. Leistungszentrum Deutschlands ausgezeichnet. Derzeit baut der FC Bayern ein neues, rund 70 Millionen teures Nachwuchsleistungszentrum im Münchner Norden. Seit 2002 haben die Profiklubs laut Deutscher Fußball-Liga insgesamt mehr als eine Milliarde Euro in ihre Leistungszentren investiert.

"Die EM 2000 war ein heilsamer Wendepunkt. Von da an wurde die Arbeit auch in der Bundesliga intensiviert. Es wurden Nachwuchszentren gebildet, die wöchentlichen Trainingseinheiten wurden von drei auf fünf oder sechs erhöht", erzählt DFB-Trainer Bernd Stöber. Matthias Sammer trieb in seiner Funktion als DFB-Sportdirektor ab 2006 die Eliteförderung voran, die neben der sportlichen Entwicklung auch die Persönlichkeitsbildung in den Vordergrund stellte. Auf seiner Internetseite bezeichnet der Verband sein Konzept zur Talentförderung heute als "weltweit einzigartig".

Die professionellen Strukturen brachten den gewünschten Erfolg: Die von Horst Hrubesch trainierte U 19-Auswahl um die Rosenheimer Lars und Sven Bender holte 2008 als Europameister den ersten DFB-Nachwuchstitel seit 16 Jahren. Ein Jahr später zogen die U 17 und die U 21 nach.

Die A-Nationalmannschaft erreichte seit 2006 immer mindestens das Halbfinale bei WM und EM. Die Krönung erfolgte 2014, als das Team von Bundestrainer Joachim Löw in Brasilien zum vierten Mal Weltmeister wurde. Die nächsten Talente um Leroy Sané, Julian Weigl oder Joshua Kimmich stehen schon bereit, die spielerische Qualität der DFB-Elf war wohl nie höher.

Geht es nach dem ehemaligen Bayern-Verteidiger Willy Sagnol, hält die deutsche Dominanz aufgrund des riesigen Talentpools noch eine Weile an: "Deutschland wird den europäischen Fußball in den nächsten zehn Jahren dominieren", meint der Franzose. Vor 16 Jahren war das kaum vorstellbar.