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"Erfahrung der EM 1996 war fatal"

30.06.2016 | Stand 02.12.2020, 19:36 Uhr

Spätestens seit der Jahrtausendwende kann man die Schiedsrichter als weitere große - und inzwischen 25. - Mannschaft bezeichnen, die an den großen Turnieren teilnimmt. 1996 zur EM in England hatte man die Schiedsrichter noch zu jedem Spiel aus den Heimatländern anreisen lassen. Die Erfahrungen damit waren fatal.

Der wichtigste Nutzen aus der Tatsache, dass seither alle Referees im gemeinsamen EM-Quartier wohnen, ist das tägliche Einschwören auf eine gemeinsame Linie bei den Spielleitungen. So sorgen die Schiedsrichter-Chefs um Pierluigi Collina für Wettbewerbsgleichheit im Turnier: Damit kein Team etwa durch Gelbsperren nach Kleinigkeiten benachteiligt wird, die woanders nicht geahndet werden. Bis dato klappt das bei dieser EM sehr gut. Wie auch die einheitliche und großzügige Spielleitung aller Referees, die flotte Partien ermöglicht.

Jeden Tag kommen alle Schiedsrichter im EM-Quartier im Plenum zusammen. Oft hat es was von einer gebetsmühlenartigen Wiederholung, wenn Collina zum Beispiel erst drei Szenen zeigt, die auf Linie liegen und dann zwei Szenen, bei denen er sich eine andere Entscheidung gewünscht hätte. Diskutiert wird dabei eher selten - höchstens über Dinge, die in der Grauzone liegen. Die grundsätzliche Linie ist vorgegeben, über sie herrscht Einigkeit.

Dass die Schiedsrichter als Mannschaft funktionieren, sieht man allein daran, dass sich alle an den Ehrenkodex halten: Obwohl jeder selbst viele attraktive Spiele pfeifen will, macht keiner die Leistung des anderen schlecht, auch intern nicht. Wenn ein Schiedsrichter vom Einsatz zurückkommt, wird er begrüßt. Dann tauscht man sich aus: Man fragt den Rückkehrer, wie die Atmosphäre war, was es Besonderes gab, wie sich Fußballer, Trainer und Offizielle verhalten haben. Umgekehrt fragt der Schiedsrichter bei strittigen Entscheidungen oft, wie es die anderen im Fernsehen gesehen und erlebt haben. Klartext wird vor allem innerhalb des eigenen Gespanns gesprochen.

Diesmal waren 18 Gespanne mit jeweils fünf Leuten vor Ort - eine vierfache Nationalmannschaft also, zusammengepfercht über Wochen in einem Hotel. Auch wenn dieses ein gewisses Maß an Luxus bietet: Da muss man darauf achten, keinen Lagerkoller zu erleiden. Raus kommt man am besten am Tag nach einer Spielleitung, wenn man körperlich und mental sowieso ausgepowert ist: Bei der EM 2004 in Portugal habe ich mir nach der Nachbesprechung der Partie mit meinem Schiedsrichter-Coach oft das Fahrrad geschnappt und bin drei, vier Stunden durch die Gegend gefahren, um abzuschalten.

Sonst ist der Alltag durchgetaktet: mit Fitnesstraining oder mit dem Studium taktischer Feinheiten der Teams, die man im nächsten Spiel zu pfeifen hat. Collina hatte die Idee, dazu ausgebildete Fußballtrainer ins Schiedsrichter-Camp einzuladen. Ich erinnere mich an eine Begebenheit zur EM 2004, als ich ihn im Medienraum über seinen Laptop gebeugt sitzen sah: Ich trat von hinten heran und erkannte, wie er die Laufwege der Stürmer der Teams studierte, die er kurz darauf zu leiten hatte - in einer Intensität, mit der ich das nie gemacht hätte. Als er bemerkte, dass ich ihm zusah, stand er auf, lächelte und sagte: "So wie du dich auf die Spiele vorbereitest, könnte ich das nie machen."

In der Tat vertrat ich eher die Ansicht, dass ein Spiel sich so spontan in eine neue Richtung entwickeln kann, dass es vielleicht ein Fehler wäre, sich zu sehr auf diese taktischen Dinge zu fixieren. Deshalb sagte ich zu ihm: "So hat jeder seine eigene Mentalität" und wir umarmten uns. Heute finde ich, dass diese taktische Vorbereitung der Schiedsrichter durchaus eines von vielen Additiven ist, die zur weiteren Professionalisierung beigetragen haben.

Wie bei den Fußballern ist es als Schiedsrichter nicht üblich, seine Frau, Freundin oder Familie ins Teamhotel einzuladen. Kontakt wird per Telefon oder über die neuen Medien gehalten. Wobei man im Gegensatz zu den Spielern abends schon auch mal auf ein Bierchen raus kann. Man sollte halt nur wissen, wann, wohin und mit wem - oder sich nicht erwischen lassen.

Markus Merk leitete zwischen 1988 und 2008 in der Bundesliga 339 Spiele - so viele wie kein anderer Referee. Der Zahnarzt aus Kaiserslautern stand von 1992 bis 2007 auf der Fifa-Liste und wurde dreimal zum "Weltschiedsrichter des Jahres" gewählt. Für unsere Zeitung schreibt er während der EM.