Ingolstadt

Flug nach Utopia

Mit dem Helikopter-Quartett von Karlheinz Stockhausen präsentieren die Sommerkonzerte ein außergewöhnliches Spektakel

26.01.2015 | Stand 02.12.2020, 21:43 Uhr

Ingolstadt (DK) Gigantomanische, spektakuläre Musikereignisse sind ein Markenzeichen für Karlheinz Stockhausen (1928–2007, Foto), den vielleicht bedeutendsten Komponisten der Nachkriegszeit.

Das Helikopter-Quartett, das nun möglicherweise zum Höhepunkt der Jubiläums-Sommerkonzerte wird, ist da nur ein Beispiel. So selbstbewusst seine Werke daherkommen, zum Komponisten wurde Stockhausen fast völlig überraschend – so beschrieb er selbst jedenfalls seine Erweckung, als dem jungen Kölner Schulmusikstudenten, der eigentlich Musiklehrer werden wollte, in den 50er Jahren plötzlich aus seinen Stilübungen heraus Kompositionen erwuchsen. Als ihm die französische Ecole des Beaux-Arts de Mâcon viele Jahrzehnte später bat, in „sechs Linien seinen Werdegang zu skizzieren, schickte er ihnen die Skizze einer Zielscheibe mit sechs konzentrischen Kreisen und einer schwarzen Zwölf im Zentrum. Dazu schrieb er: Seit ich mein erstes Knallkorkengewehr bekam, habe ich IMMER versucht, ins Schwarze zu treffen.
 

as war pointiert überspitzt – aber tatsächlich fällt an Stockhausen diese unglaublich penible Planwirtschaft auf, nach welcher er arbeitete. So teilte er in den 80er Jahren mit, welchen Arbeitsplan er sich für das nächste Vierteljahrhundert vornehmen würde und schuf dann den Zyklus „Licht“, einen Werkkomplex in sieben Teilen, der die einzelnen Wochentage abarbeitet und ihnen jeweils eine Farbe, ein Element und einen Sinn zuordnet. 28 Jahre Arbeit widmete Stockhausen dieser Aufgabe – eine vollständige Aufführung würde etwa 29 Stunden dauern und damit sogar noch Richard Wagners „Ring“, der etwa 16 Stunden dauert, übertrumpfen.

Als musikalische Technik wendete er für dieses Gigantenprojekt unter anderem die sogenannte „Superformel“ an, welche synchron die drei Klänge der drei biblisch inspirierten Hauptfiguren Michael, Eva und Luzifer vereint.

Zum riesenhaften Projekt „Licht“ gehört auch das Helikopter-Quartett. Die Hubschrauber verlangt Stockhausen für die zentrale Stelle des Mittwochs der Kompositionswoche, er hatte sie einem Traum nachempfunden. Überhaupt beachtete er derlei Fingerzeige des Himmels, so berichtete er auch, dass eines Tages während er an just diesem Werk arbeitete, gleich vier grüne Hubschrauber an seinem Studio vorbeiflogen. Das Quartett scheint der zündende Funke für das Opus „Mittwoch“ gewesen zu sein, Stockhausen gibt dafür als Entstehungszeit die Jahre 1992–1993 an – die restliche Musik begann er erst zwei Jahre später zu komponieren. Das sogenannte „Helikopter-Quartett“ basiert auf den Klängen eines Streichensembles, das mit vier Helikoptern bewegt wird, sodass sich Klang von Instrumenten und Rotorblättern vereinen. Entsprechend komplex ist die Aufführung zu realisieren. Auf der Besetzung stehen neben den vier Musikern auch vier Hubschrauber mit Piloten, Tontechniker, vier Fernsehübertragungsgeräte, viermal drei Tonübertragungsgeräte, ein Hörsaal mit vier Fernsehgeräten und Lautsprecheranlagen, ein Tontechniker mit Mischpult und ein Moderator. Etwa zwanzig Minuten ziehen dann die vier Fluggeräte über dem Konzertsaal ihre Schleifen, entfernen sich dabei nach ausgeklügeltem Plan bis zu sechs Kilometer weit, während die Zuschauer im Inneren auf Monitoren und per Übertragung Bilder und Klänge ihrer Bewegungen mitverfolgen können. Zwölf ankommende Signale werden live durch den Tontechniker gemischt, dem somit, genau wie dem Moderator, eine zentrale Rolle zukommt.

Der Auftrag für die spektakuläre Installation erging durch die Salzburger Festspiele unter Gerard Mortier an Stockhausen – für den Komponisten ein Pakt mit dem Teufel, denn auch wenn er die institutionalisierte Form der Hochkultur nicht betreiben wollte, so winkte ihm so eben die Chance auf die Realisierung seiner Träume. Die Uraufführung in Salzburg scheiterte dann allerdings an der fehlenden Kooperation des Bundesheeres, welches keine Hubschrauber zur Verfügung stellte.

Erst zwei Jahre später gingen beim Holland Festival in Amsterdam die Musiker des Arditti Quartetts mithilfe der Niederländischen Luftstreitkräfte in die Luft, Aufführungen in Salzburg, Braunschweig und Boswill (Schweiz) folgten. Am 19. Juli steigen nun die vier Musiker in Ingolstadt in die Hubschrauber und wagen den Abflug in ein nicht unumstrittenes, aber beeindruckendes Utopia eines Künstlers, der seine Träume ernst nahm, auch wenn sie gelegentlich ein wenig groß dimensioniert ausfielen.

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