München

Kapitalismus-Schelte als Comedy

Stefano Massinis "Lehman Brothers" als bildgewaltiges Spektakel im Münchner Residenztheater

30.06.2016 | Stand 02.12.2020, 19:36 Uhr

Viele Bilder, wenig Schauspielkunst: Szene aus "Lehman Brothers" am Residenztheater. - Foto: Pohlmann

München (DK) Hektik, Hektik, Hektik im coolen New Yorker Businessbüro (von Nina Wetzel). Alle hängen an den Telefonen, brüllen, schreien und gestikulieren wie wild durcheinander, rasen wie von der Tarantel gestochen von Schreibtisch zu Schreibtisch, hacken wie verrückt in ihre Computer und zerknüllen ohne Unterlass wichtige Dokumente: Endzeitstimmung im Headoffice von Lehman Brothers.

Ein furioser Auftakt in Marius von Mayenburgs Inszenierung von Stefano Massinis Theaterstück, das vor einem Jahr im Mailänder Piccolo Theater seine Uraufführung erlebte und den größten Unternehmenscrash in der Geschichte der USA thematisiert. Schließlich wurde die Investmentbank Lehman Brothers ja auch zum Symbol des ungezügelten Kapitalismus.

Sechs Stunden würde die Bühnenfassung des italienischen Autors eigentlich dauern, doch der Regisseur hat diese Darstellung des "Aufstiegs und Falls einer Dynastie" (so der Untertitel) auf satte drei Stunden gekürzt. Doch immer noch eine Stunde zu viel für diese tröge Darstellung der Firmenchronik eines der ehedem mächtigsten Bankhäuser der Welt, durch die sich der Autor von Station zu Station durchhantelt: Drei Brüder, Heyum, Mendel und Meier Lehman aus dem unterfränkischen Dörfchen Rimpar, wanderten 1844 in die USA aus. Der wirtschaftlichen Not in ihrer Heimat und der antisemitischen Anfeindungen überdrüssig, suchten sie ihr Heil im "gelobten Land" Amerika. In Montgomery, Alabama, gründeten die drei jüdischen Brüder zunächst einen Gemischtwarenladen und stiegen bald in den Kauf und Verkauf von Baumwolle ein.

Und weiter ging's bergauf: Zur Finanzierung des immer umfangreicher werdenden Handels gründeten die cleveren Geschäftsleute eine Bank, die einen Großteil des Eisenbahnbaus durch den Wilden Westen finanzierte. Mit dem untrüglichen Gespür für Geschäfte und immer auf der Seite der politisch Mächtigen trugen die "Drei aus Old Germany", deren Söhne, Enkel und Cousins, ohne Skrupel ihr finanzielles Scherflein in Form von Krediten bei. Bis 2008 die Nachfolger der Lehman-Brüder mit dem Einstieg in Film, Fernsehen und Investment sich verzockten.

Einen ebenso spannenden wie kritischen Gang durch 150 Jahre amerikanischer Familien- und Wirtschaftsgeschichte samt einer Darstellung des aus den Fugen geratenen Kapitalismus hätte diese Story zweifellos hergegeben, doch allzu papieren ist Massinis Stück ausgefallen. Dies hat der Regisseur bei den Proben wohl auch gemerkt und hat die Vorlage, die noch dazu in freien Rhythmen und ohne Personenzuordnung geschrieben ist, nicht nur gekürzt, sondern die Szenen mit überreichlich Comedy-, Slapstick- und Filmsequenzen garniert.

Durchaus witzig ist das bisweilen, und die auf die bühnenfüllende Leinwand projizierten Fotos und Filme von riesigen Baumwollfeldern in Alabama, vom Verlegen der Eisenbahngleise durch das Death Valley sind historische Schmankerl.

Die fünf Schauspieler (Michelle Cuciuffo, Philip Dechamps, Gunther Eckes, Thomas Gräßle und Lukas Turtur) und Katrin Röver, die den Lehman-Clan durch drei Generationen hindurch verkörpern, sind hier eigentlich nur die Moderatoren all der Filme und Fotos. Diese erhellen jedoch eindrucksvoll, die jeweilige politische, wirtschaftliche und soziale Situation der USA: Eine Glanzleistung des Technikteams des Residenztheaters. Aber dieser rasant abschnurrende Overkill an Bildern ist leider auch, je länger, desto intensiver, ebenso anstrengend wie ermüdend.

Eine kritischere Auseinandersetzung mit Aufstieg und Fall einer der mächtigsten Familiendynastien der USA samt einer Analyse von Ursachen und Folgen des ungebremsten Kapitalismus hätte es schon sein dürfen.

Das Premierenpublikum war über diese Comedy-Version freilich hell begeistert und jubelte dem Regisseur und den Lehman Brother-Doubles geradezu frenetisch zu.

Die nächsten Vorstellungen sind am 4., 13. und 24. Juli; Kartentelefon (0 89) 21 85 19 40 und online: tickets@residenztheater.de.

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