Ingolstadt

Chopins großes Drama

Sommerkonzerte: Der Pianist Jan Lisiecki und die Dirigentin Mirga Grazinyte-Tyla entwickeln eine eigenwillige Deutung des zweiten Klavierkonzerts

10.07.2017 | Stand 02.12.2020, 17:48 Uhr

Große Dirigentenpersönlichkeit: Mirga Grazinyte-Tyla leitet das City of Birmingham Symphony Orchestra. - Foto: Sauer

Ingolstadt (DK) Der Pianist Jan Lisiecki hat vor einigen Tagen in einem Interview mit unserer Zeitung betont, sein Zugang zu Chopins Musik sei nicht polnisch geprägt, sondern eher international und emotional. Seine polnische familiäre Herkunft sei nicht maßgeblich für sein Verständnis dieses Komponisten.

In Ingolstadt hat Lisiecki nun im Rahmen der Audi-Sommerkonzerte das zweite Klavierkonzert von Frédéric Chopin gespielt. Und, in der Tat, polnisch in dem Sinn wie etwa Adam Harasiewicz oder Arthur Rubinstein die Musik des großen Klavierkomponisten gestaltet hat, ist sein Zugang nicht. Man möchte sogar noch weiter gehen: Der junge Kanadier gestaltet Chopin ausgesprochen untypisch, jenseits fast jeder Tradition.

Es gab bereits einmal einen großen Pianisten, dessen Chopin-Interpretation so umstritten war, dass es zum Eklat kam: Ivo Pogorelich. Als er 1980 beim Chopin-Wettbewerb in Warschau antrat, zerstritt sich die Jury über sein Klavierspiel dermaßen, dass die Hälfte der Mitglieder verärgert vorzeitig abreiste. Pogorelich erhielt keinen Preis, unsere Sicht auf Chopins Musik hat er jedoch nachhaltiger verändert als jeder andere Pianist in den vergangenen 50 Jahren.

Fast so verhält es sich auch mit Jan Lisiecki. Alles, was man mit Chopins Kompositionen verbindet, wirft er radikal über Bord: die mondäne Eleganz, die Leichtigkeit des Anschlags, das Parfüm des Salons, die mit perlender Leichtigkeit hingeworfenen Verzierungen, die Nonchalance der Erzählweise. Nichts davon ist in Lisieckis Darstellung zu spüren. Im Gegenteil.

Jan Lisiecki arbeitet sich an Chopin ab. Die Kontraste können kaum groß genug sein. Bereits beim ersten Einsatz im Kopfsatz des Klavierkonzerts donnerte er, dass der Saal bebte, um bereits im nächsten Moment geradezu im Flüstertonfall die Melodie zu entwickeln. In die unzähligen schnellen Arpeggien, rasanten Läufe, verzwickten Girlanden stürzte er sich mit einer Vehemenz, manchmal mit einer Aggressivität, wie sie Chopin eigentlich wesensfremd sein sollte. Und im zweiten Satz vermied er es geradezu, eine lyrische Atmosphäre, einen romantischen Rausch zu entwickeln. Er blieb sachlich, kaum etwas war zu spüren von dem "inbrünstigsten Liebeserguss, den die Musikliteratur kennt", wie ein Musikwissenschaftler schrieb. Viel mehr interessierte ihn offensichtlich der herbe rezitativische Exkurs, den er mit größtmöglicher Dramatik auslebte. Und auch im Finalsatz, einem Rondo, vermied er allzu folkloristische Färbungen, sondern strickte weiter an seinem eher düsteren Chopin-Bild.

Jan Lisiecki ist es (ähnlich wie Pogorelich) anzurechnen, dass er Chopin vom Makel oberflächlicher Salonkunst befreit, dass er den ernsthaften Kern enthüllt, das Drama dieser Musik darstellt. Ein bisschen erinnert das an Nikolaus Harnoncourt, der Mozart endgültig vom süßlichen Mozartkugel-Image befreit hat.

Das hervorragende City of Birmingham Symphony Orchestra unterstützte Lisiecki übrigens großartig in seiner dramatischen Lesart. Bereits das Orchestervorspiel dirigierte Mirga Grazinyte-Tyla packend,spannungsgeladen, dabei in jeder Phrase wohl kalkuliert. Kein Zweifel: Die junge Dirigentin, die mit heftigen Armschlägen und immer wieder auf dem Podest springend das Orchester anfeuerte, und der Nachwuchspianist zogen an einem Strang.

Das war umso verblüffender, als sich die litauische Dirigentin bei den übrigen Werken des Abends von einer ganz anderen Seite zeigte. "Petruschka" von Igor Strawinsky präsentierte sie längst nicht so muskulös. Vielmehr kam ist es ihr spürbar auf etwa anderes an: den Geist der Tanzmusik, aus dem das Ballett entstanden ist. Kaum je die geraden Taktnoten betonend, ließ sie das musikalische Geschehen fließen und tänzeln. Die abrupten Einwürfe des Schlagwerks oder der Blechbläser klangen bei ihr eher zahm, die Charaktere der einzelnen Liedmotive, Drehleier-Melodien, die Zitate aus der Volksmusik kamen nicht eckig und übertrieben prägnant daher, sondern liebevoll und ruhig ausgestaltet. Nur als sich die Katastrophe anbahnte, der Konflikt zwischen dem Mohren und der dümmlichen Ballerina sich zuspitzte, ließ auch Mirga Grazinyte-Tyla den Orchesterklang explodieren.

Noch zartere Töne erklangen am Anfang des Konzertabends bei Walentyn Sylwestrows "Der Bote" für Streichorchester und Klavier. Das Stück des Ukrainers besteht eigentlich nur aus Anspielungen. Vor einer Klangkulisse aus Windgeräuschen spielt das Orchester wimmernd unvollkommen empfindsame, elegisch verlangsamte melodische Wendungen der Mozart-Zeit. Das wirkte wie matt schimmernde Musik, die aus der Ferne, aus einem anderen Zeitalter zu uns herüberweht. Gefilterte, gebrochene Melodien, kaum fassbar. Musik, die zum Geräusch zerfließt.

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