Frankfurt
Warnung vor Stillstand

Wirtschaft fordert nach der Wahl rasche Regierungsbildung und nimmt die AfD aufs Korn

25.09.2017 | Stand 02.12.2020, 17:26 Uhr

Frankfurt/Berlin (DK/dpa/AFP) Wenn Unternehmen und Märkte eines nicht mögen, dann längere Unsicherheit und politische Risiken. Nach der Bundestagswahl ruft die Wirtschaft zu einer raschen Regierungsbildung auf. Und reagiert auch auf den Erfolg der rechtspopulistischen AfD.

"Wir brauchen in diesen schwierigen Zeiten eine stabile Regierung", sagte der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertags (DIHK), Eric Schweitzer. Er forderte einen Koalitionsvertrag für mehr Investitionen. Die wirtschaftliche Lage in Deutschland sei gut. Aber Betriebe machten sich Sorgen: "Auf vielen wichtigen Zukunftsfeldern registrieren die Unternehmen mehr Stillstand als Aufbruch." Auch BDI-Präsident Dieter Kempf sprach von schwieriger Regierungsbildung und Herausforderungen durch ein Parlament aus sieben Parteien. Der Industriechef appellierte an sie, die Lage schnell zu sondieren und konzentriert Verhandlungen über ein tragfähiges Kabinett aufzunehmen.

Schweitzer und Kempf warnten aber auch vor Ausländerfeindlichkeit. Dies könne sich die Wirtschaft "nicht ansatzweise erlauben", sie sei auf Fachkräfte von außen angewiesen, so der DIHK-Chef. Ein "Rückzug ins Nationale ist für unser Land keine Alternative", warnte Kempf: "Die AfD ist im Kern gegen das, was Deutschland stark gemacht hat."

Der Bundesverband Großhandel, Außenhandel, Dienstleistungen (BGA) äußerte die Hoffnung, dass eine Jamaika-Koalition die Chance biete, "Ökonomie und Ökologie zu versöhnen". Die US-Handelskammer in Deutschland forderte die zukünftige Bundesregierung auf, "Reformen zur Modernisierung des Standorts Deutschland voranzutreiben". Wichtig sei eine "schnelle Regierungsbildung".

Arbeitgeberpräsident Ingo Kramer drang ebenfalls darauf, "rasch" eine handlungsfähige Regierung zu bilden. Um Wachstum, Beschäftigung und Sicherheit zu schaffen, seien in den nächsten vier Jahren "wichtige Entscheidungen" zu treffen. Ins gleiche Horn stieß Peter Driessen, Hauptgeschäftsführer des Bayerischen Industrie- und Handelskammertages. "Wirtschaftspolitik und zukunftsentscheidende Themen wie die Digitalisierung müssen wieder in den Vordergrund rücken." Die derzeit gute Konjunktur sei kein Polster, "auf dem sich unser Land ausruhen darf", so Driessen.

Auch zwei Chefs von Dax-Konzernen reagierten ungewöhnlich offen auf die politische Entwicklung. Neben VW-Chef Matthias Müller (siehe Kasten) äußerte sich auch Siemens-Chef Joe Kaeser. Mit der AfD habe es eine "national-populistische Partei fulminant ins Parlament geschafft. Das ist auch eine Niederlage der Eliten in Deutschland". Die Wähler der Partei seien als am Rande der Gesellschaft stehend abgetan worden. "Es muss die Aufgabe (. . .) sein, Menschen, die sich zurückgesetzt fühlen, einzubinden und ihnen Perspektiven zu geben", so der Siemens-Chef.

Der deutsche Aktienmarkt zeigte sich gestern verhältnismäßig gelassen angesichts des AfD-Erfolgs und des Einbruchs bei Union und SPD. Nach Verlusten zum Handelsbeginn drehte der Leitindex Dax sogar ins Plus. Damit hielt sich die Aufregung trotz des für viele Börsianer doch überraschenden Wahlausgangs bislang in Grenzen. Der Euro weitete dagegen seine Verluste etwas aus und rutschte unter 1,19 US-Dollar.

Volkswirte von Großbanken sahen auch Risiken durch eine mögliche "Jamaika"-Koalition in Berlin. Dekabank-Chefökonom Ulrich Kater sagte, ein solches Bündnis wäre "auf den ersten Blick nicht das beste Szenario, denn es bringt Unsicherheit - von der Wirtschaftspolitik bis hin zur Europapolitik". Er betonte aber gleichzeitig: "Auf den zweiten Blick bietet es jedoch auch Chancen, mit frischen Kräften Themen neu anzupacken."

Ähnlich äußerte sich David Folkerts-Landau von der Deutschen Bank. Der Graben zwischen FDP und Grünen sei vor allem in der Sozial-, Europa- und Umweltpolitik tief. Dennoch sei eine Jamaika-Koalition auf Bundesebene "Risiko und Chance zugleich". Wenn die Koalition gelänge, "wäre das ein Beweis für den Pragmatismus der Parteien in Deutschland - und stünde damit im Gegensatz zu den Partisanenkämpfen, die in einigen anderen Ländern zu politischen Blockaden führen".

Commerzbank-Experte Jörg Krämer glaubt: "Der Knackpunkt bei den Verhandlungen dürfte eher bei der Einwanderungspolitik liegen."

Für die privaten Banken ist eine Koalition aus Union, FDP und Grünen "keine Notlösung". Sie sollte vielmehr als Chance begriffen werden, meinte der Hauptgeschäftsführer des Bankenverbandes, Michael Kemmer: "Ein solches Projekt kann den Standort Deutschland stärken, denn zentrale Zukunftsthemen wie Digitalisierung, Bildung und Integration würden sicherlich in den Mittelpunkt rücken."

Das Handwerk beurteilte das Wahlergebnis mit gemischten Gefühlen. "Wochenlange oder gar monatelange Koalitionsverhandlungen bedeuten Stillstand und für die Wirtschaft eine Phase der Ungewissheit, wie es in der Steuer-, Wirtschafts-, Energie- und Arbeitsmarktpolitik weitergeht", sagte Verbandspräsident Hans Peter Wollseifer. "Jamaika" berge aber auch "die Chance, Zukunftsthemen mit neuen Lösungsansätzen anzugehen und Deutschland einen Modernisierungsschub zu geben".

Es müsse "Ziel der Parteien der Mitte sein, zügig eine stabile Regierung zu bilden, auch wenn viele Positionen weit auseinanderliegen", bekräftigte Utz Tillmann, Hauptgeschäftsführer des Verbands der Chemischen Industrie (VCI). Der Rückstand bei Investitionen in Bildung, Digitalisierung und Verkehrsinfrastruktur lasse sich nur mit einem handlungsfähigen Kabinett bewältigen.

Auch der Maschinenbauverband VDMA forderte ein besseres Klima für Innovationen. "Wir brauchen ein klares Signal für einen digitalen Aufbruch, für Bildung und Forschung, eine innovationsfreundliche Steuerpolitik und vor allem Vorfahrt für Flexibilität und gute Ideen", erklärte Hauptgeschäftsführer Thilo Brodtmann in Frankfurt.