Berlin
Kursbestimmung als Existenzfrage

Auch nach dem Parteitag scheint der Richtungsstreit in der SPD nicht beigelegt

08.12.2017 | Stand 02.12.2020, 17:05 Uhr

Berlin (DK) Quo vadis SPD? Das Wahldebakel vom 24. September ist noch nicht verdaut, da stecken die Genossen mitten in der Zerreißprobe zwischen Opposition und großer Koalition. "Wir werden gebraucht!", haut Fraktionschefin Andrea Nahles am Freitag beim zweiten Tag des Parteitages in Berlin auf das Rednerpult, wirbt für Verantwortungsübernahme in einer neuen Regierung und will von Vorbedingungen nichts wissen: "Man geht nicht in Verhandlungen mit einem Riesen-Rucksack von roten Linien."

Kuschelkurs gegenüber der Union - das führt nur ins Verderben, so sehen es andere. "Die SPD muss mutiger werden. Dazu gehört es, intensiv über eine Minderheitsregierung zu diskutieren und uns nicht einfach wieder vor den Karren von Kanzlerin Angela Merkel spannen zu lassen", fordert Natascha Kohnen, Chefin der Bayern-SPD und frisch gekürte Stellvertreterin von Parteichef Martin Schulz, im Gespräch mit unserer Berliner Redaktion.

Am Vortag hatten sich die Delegierten nach einer denkwürdigen Debatte zu einem "Ja" zu ergebnisoffenen Gesprächen durchgerungen und Parteichef Schulz mit gut 82 Prozent wiedergewählt. Doch ganz geheuer ist das vielen Sozialdemokraten nicht, riesengroß bleibt die Sorge, von der Union plattgemacht zu werden, die Chance zur Erneuerung auf dem Altar der großen Koalition zu opfern.

Einer der lautesten "GroKo"-Befürworter, Hamburgs Erster Bürgermeister Olaf Scholz, wird bei der Wahl zu den stellvertretenden Parteichefs mit 59,2 Prozent übel abgestraft. Und Malu Dreyer, Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz und "GroKo"-Gegnerin, triumphiert mit 97,5 Prozent. Die Sozialdemokraten im Dezember 2017 sind eine gespaltene Partei.

Lars Klingbeil wird am Freitag fast nebenbei mit mageren 70 Prozent zum neuen Generalsekretär gewählt. Trotz des dürftigen Ergebnisses wird er nun zum Hoffnungsträger für den Neustart auserkoren. "Was muss geschehen, damit uns die Menschen wieder die Zukunft anvertrauen", stellt er in seiner Bewerbungsrede die alles entscheidende Frage - und schwört die Partei auf einen langen und anstrengenden Umbau ein. Die Erneuerung sei die Aufgabe Nummer eins, gibt er die Parole vor, fordert eine neue Debattenkultur. "Wir können nicht alle Themen gleich behandeln", bemängelt er im Gespräch mit unseren Berliner Korrespondenten rückblickend eine fehlende Akzentsetzung im abgelaufenen Wahlkampf 2017.

Milliarden für Schulen, mehr Personal in der Pflege, die Stärkung Europas nennt er als Zukunftsthemen, auf die sich die SPD stürzen soll, Kernpunkte auch für die anstehenden Verhandlungen zu einer neuen großen Koalition. "Es gibt keine Erfolgsgarantie für eine Erneuerung an der Seite von Angela Merkel", sagt er und fügt hinzu: "Die Erneuerung kann aber auch in jeder anderen Form der Regierungsbeteiligung oder in der Opposition missglücken."

Der SPD fehlt offenbar weiter eine Richtschnur. Abgrenzung von der Union, Bollwerk gegen die AfD, das ist konsensfähig. Aber ein Ruck nach links, davor wird gewarnt: Zwar werde die soziale Gerechtigkeit "das wesentliche Standbein der SPD" bleiben, erklärt Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil gegenüber unserer Berliner Redaktion. "Aber wenn die SPD nicht ihre Kompetenz in Wirtschaftsfragen zeigt und glaubwürdig für den Erhalt und die Schaffung von Jobs kämpft, ist sie nicht mehrheitsfähig. Auch an dieser Stelle werden wir unser Profil schärfen müssen."

Nach links oder doch in die Mitte - die Kursbestimmung als Existenzfrage. Parteichef Schulz will ganz auf die Europa-Karte setzen, beschwört am Freitag die EU als Friedensprojekt und wirbt für seinen Vorstoß, die Union bis 2025 zu den Vereinigten Staaten von Europa umzubauen. "Ich wage von Dingen zu träumen, die es niemals gab, und frage: Warum nicht", zitiert er den englischen Dichter Robert Browning. Ob das die Kassiererin im Supermarkt oder den Stahlkocher in Duisburg wieder für die SPD begeistert? Nicht alle sind überzeugt. Natascha Kohnen listet mit bezahlbarem Wohnraum oder gerechterer Steuerpolitik Prioritäten auf, die wohl vielen näher seien.

Die Angst, die Erneuerung falle wie schon nach den letzten Wahlschlappen ins Wasser, ist allgegenwärtig auf dem Parteitag. "Die Probleme der SPD gehen weit über die Frage nach der großen Koalition hinaus. Nach dem miserablen Wahlergebnis muss sich die SPD selbst erneuern", resümiert Stephan Weil.