Ingolstadt
Keine Begründung, keine Behandlung

In Zukunft könnten deutlich mehr Patienten in der Notaufnahme abgewiesen werden als bisher

04.03.2016 | Stand 02.12.2020, 20:07 Uhr

Ingolstadt/Berlin (DK) Hexenschuss! So mancher geplagte Rückenpatient schleppt sich in so einem Fall in die Notaufnahme des nächsten Krankenhauses. Doch wenn dies zu einer Zeit geschieht, in der auch Arztpraxen geöffnet haben, muss der Patient in der Klinik vielleicht bald abgewiesen werden.

In Berlin soll dies so gehandhabt werden. Und auch in den bayerischen Krankenhäusern geht die Angst um, dass Berlin nur "der Vorreiter" sei. Die Kassenärztliche Vereinigung (KV) Berlin verlangt seit 1. Februar von den Notaufnahmen der Krankenhäuser eine gesonderte und ausführliche Begründung für alle ambulanten Notfallbehandlungen, die werktags zwischen 7 und 19 Uhr erbracht werden. Andernfalls soll die Klinik die Leistung nicht mehr bezahlt bekommen. Anlass für den strengen Kurs sei der immer größer werdende Andrang in den Notaufnahmen und zunehmende Beschwerden über lange Wartezeiten, sagt der stellvertretende Vorstandsvorsitzende der KV Berlin, Uwe Kraffel, im Gespräch mit unserer Zeitung. 60 Prozent der Fälle in den Notaufnahmen würden zu Zeiten behandelt, zu denen die Praxen niedergelassener Mediziner geöffnet seien. Nach Meinung Kraffels füllen die mehr als 70 Kliniken in der Bundeshauptstadt über die Notaufnahmen ihre Krankenbetten.

Patienten, die keine echten Notfälle seien, müssten die Notaufnahmen "wegschicken", fordert Kraffel. Bei den Berliner Krankenhäusern stößt ein solches Vorgehen auf wenig Gegenliebe. Die meisten Häuser spielen momentan auf Zeit: "Wir dokumentieren die Fälle wie üblich und warten ab", sagt Manuela Zingl, Sprecherin der Berliner Charité. Man verfahre mit dem Berichtswesen, wie man immer verfahren habe.

Die Deutsche Gesellschaft interdisziplinäre Notfall- und Akutmedizin (DGINA) läuft gegen die Forderung der KV Berlin Sturm. Für Christoph Dodt, Präsident der DGINA, ist sie schlicht und einfach wirklichkeitsfremd. "Die meisten Patienten können im Notfall zunächst meist gar nicht einschätzen, wie gefährlich die Situation ist. Dennoch müssen sie selbst entscheiden, ob sie sich durch einen niedergelassenen Kassenarzt, den Rettungsdienst oder in der Notaufnahme eines Krankenhauses behandeln lassen". Überdies sei "eine Nichtbehandlung in einer Notfallsituation nicht erlaubt".

Die bayerischen Krankenhäuser sind aufgrund der Situation in Berlin alarmiert. In diesen Tagen trafen sich die Geschäftsführer der größten Kliniken. Auf der Agenda stand laut Eduard Fuchshuber, Pressesprecher der Bayerischen Krankenhausgesellschaft, auch das Thema Notfallversorgung. Sorge bereitet den Klinikchefs nicht zuletzt, dass das Bundesgesundheitsministerium die Rechtsauffassung der KV Berlin bestätigt hat. Auf eine Anfrage der Bundestagsabgeordneten Birgit Wöllert (Die Linke) verwies Annette Widmann-Mauz, Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesgesundheitsministerium, auf das Sozialgesetzbuch V, im dem festgeschrieben sei, das Krankenhäuser zur ambulanten Versorgung nur in Notfällen in Anspruch genommen werden dürfen. In der Gebührenordnung der gesetzlichen Krankenversicherung sei zudem festgelegt, dass Krankenhäuser Notfallleistungen nur berechnen dürfen, wenn "die Erkrankung des Patienten einer sofortigen Maßnahme bedarf und die Versorgung durch einen Vertragsarzt nicht möglich oder aufgrund der Umstände nicht vertretbar" sei. Widmann-Mauz verweist auf ein entsprechendes Urteil des Bundessozialgerichts vom 2. Juli 2014. Und betont: Regionale Regelungen, wie sie die KV Berlin gegenüber den Notaufnahmen in der Hauptstadt formuliert habe, seien zulässig.

Wenn die Kassenärztliche Vereinigung Bayern (KVB) dies ebenfalls so umsetzen würde, wäre "etwa ein Drittel der ambulanten Notfallbehandlungen erlöstechnisch hoch riskant", sagt Heribert Fastenmeier, der Geschäftsführer des Ingolstädter Klinikums. Der Erlös, der dem Klinikum verloren ginge, bewege sich bei jährlich rund 300 000 Euro. Und die Notfallbehandlungen seien schon jetzt unterfinanziert. In dem viertgrößten Krankenhaus Bayerns werden jährlich rund 20 000 ambulante Notfälle behandelt.

Gegenwärtig fährt die KVB keinen so stringenten Kurs wie die KV Berlin. "Bei diesem Thema setzen wir auf Kooperation statt Konfrontation und stets gute Zusammenarbeit mit den Kliniken", betont der Vorstandsvorsitzende der KVB, Wolfgang Krombholz, auf Anfrage. In Bayern will man den immer stärker werdenden Zulauf in Notaufnahmen durch die Schaffung weiterer Bereitschaftspraxen an Kliniken eindämmen. Auch am Ingolstädter Klinikum gibt es eine solche, von niedergelassenen Ärzten betriebene Notfallpraxis. Diese hat allerdings nur geöffnet, wenn reguläre Arztpraxen geschlossen haben.